Veröffentlicht am 10.10.11

Die sanfte Steuerung der Bildung

Handelt es sich um eine Scheindemokratie, die den Volkswillen  als zufällig und  lenkbar ansieht? Zu den Durchsetzungsstrategien von Pisa, Bologna & Co. Pisa und Bologna reagieren nur vordergründig auf die Wirklichkeit und stellen eine neue Realität her.

Langsam greift der Reform-Kater um sich. Nachdem die frühen Warnungen aus Wissenschaft und Pädagogik in den Wind geschlagen worden waren, geben zunehmend auch Stimmen aus Wirtschaft und Politik das längst offensichtliche Scheitern der Bildungsreformen um Bologna und Pisa zu. Wie aber sind Pisa und Bologna gegen alle Vernunft, aber mit offenbarer Macht am Willen der meisten Beteiligten und der Bürger vorbei durchgesetzt worden?

Darüber geben die globalen und europäischen Akteure des Bildungsumbaus selbst Auskunft. Die OECD, als Wirtschaftsorganisation verantwortlich für den Pisa-Test, sieht in ihrem Verfahren vergleichender Kontrolle (Peer-Review) den „effizientesten Weg, Einfluss auf das Verhalten souveräner Staaten zu nehmen“. Dazu diene die „naming and shaming technique“: Wer nicht dem Pisa-Kodex entspricht, wird am medialen Pranger bloßgestellt.
Obwohl die OECD keine unmittelbare demokratische Legitimation hat, setzt sie die eigenen normativen Ansprüche politisch durch. Pisa 2000 formulierte bereits, dass der Test keine Rücksicht auf nationale Lehrpläne nehme – also auf das, was unsere Schüler tatsächlich gelernt haben. Vielmehr verfolge man ein eigenes „didaktisches und bildungstheoretisches Konzept“, das „normativ“ wirke. Im Mittelpunkt steht darin das Kompetenz-Konzept der OECD, womit die rein funktionale Fähigkeit gemeint ist, sich an die ökonomischen Erfordernisse flexibel „anzupassen“. Anpassung war allerdings noch nie das Ziel von Bildung – ganz im Gegenteil. Doch setzte nun unter dem inszenierten „Pisa-Schock“ das Denken aus, und jede Bildungsreform wurde damit begründet, beim nächsten Test besser abschneiden zu wollen. Lehrpläne, Standards und zentrale Prüfungen wurden entsprechend zugeschnitten. Das OECD-Konzept wurde tatsächlich zum neuen Maßstab für Bildungserfolg. Die vermeintlich „objektiven“ Vergleichstests setzten so durch normative Empirie ein verengtes, utilitaristisches Bildungsverständnis am demokratischen Souverän vorbei durch und höhlen geltende Richtlinien aus.
Wer nicht unmittelbar demokratisch legitimiert ist, nutzt Mittel indirekter Einflussnahme. Diese Strategie „sanfter Steuerung“ (soft governance) im Bildungswesen wurde mittlerweile von Wissenschaftlern des Sonderforschungsbereiches 597 der Universität Bremen empirisch verifiziert. EU und OECD haben demnach das gerade nicht funktionalistisch ausgerichtete deutsche Bildungsdenken erfolgreich verdrängt, indem man mit einer Flut von Gutachten, Erklärungen und „semi-akademischer Prosa“ gezielt bestimmte Ideen in die öffentliche Diskussion einspeiste. Dazu gehören auch die Koordination und Überwachung der Reformen sowie verhaltenssteuernde Standards. Dabei sei erstaunlich, wie leicht nationale Bildungsideen umgekrempelt und sogenannte „Veto-Player“ ausgeschaltet werden konnten – gemeint sind wohl jene Alt-Europäer, die das eigene Denken nicht der „sanften Steuerung“ unterwerfen wollten.
Dies gelang bei der Hochschulreform auch durch jeweils national angepasste rhetorische Strategien. Während in Deutschland vor allem Humboldt als personifizierte Bildungsidee immer wieder ins Grab geredet wurde, hat man etwa in der Schweiz den rückständigen „Kantönli-Geist“ verspottet, der den Anschluss an die fortschrittliche EU verhindere. Die Blaupause für solche „Governance“ liefert eines der strategischen Zentren des Bologna-Prozesses. In einem Papier über die „Kunst des Reformierens“ gibt die Bertelsmann-Stiftung eine Anleitung, wie man Reformen gegen den Willen der Bürger und Betroffenen durchsetzt. Regierungen dürften sich von „Vetospielern“ nicht die Handlungsspielräume verengen lassen. Daher seien Reformprogramme „unter Reduktion der Beteiligung von Interessengruppen“ zu entwickeln, sodann diese zwar anzuhören, nicht jedoch, um die Sache zu diskutieren, sondern um die „Legitimität der Reform“ zu steigern und „Widerstände“ zu mindern. Ein einheitlicher kommunikativer Rahmen gibt die Schlagworte für die Öffentlichkeit vor.
Besonderes Augenmerk gilt der Schwächung von „Widerstandspotential“, das durch einen „geschickten Partizipationsstil“ „aufzubrechen“ sei. Man spaltet also die Opposition, indem man die einen beteiligt, die anderen benachteiligt, „um so eine potentiell geschlossene Abwehrfront zu verhindern“: „Durch eine selektive Partizipation während der Entscheidungsphase können Vetospieler in ihrer Kohärenz geschwächt, sozusagen ,gesplittet‘, und die Protestfähigkeit bestimmter Interessengruppen gemindert werden.“ Diese Zersetzungsmaßnahmen gegenüber nicht zustimmungswilligen Bürgern und Beteiligten gilt als demokratietheoretisch „nur auf den ersten Blick“ bedenklich. Schließlich müsse sich „eine Regierung im Zweifelsfall auch gegen den empirischen und kontingenten Volkswillen durchsetzen“.
Eine solche von Fachleuten gesteuerte Scheindemokratie, die den Volkswillen als zufällig und lenkbar sieht, streben auch klassische Modelle der Propaganda an: Die „bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen“ sei die „logische Folge der Struktur unserer Demokratie: Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich“, so Edward Bernays in seinem berühmten Buch „Propaganda“ von 1928. Das gilt bis heute als Grundlage aller PR. Hierzu müsse man die weitgehend unbewussten Bilder in den Köpfen der Menschen verändern – und zwar durch die Inszenierung vermeintlicher Wirklichkeiten.
Auch kommunikative Großereignisse wie Pisa oder Bologna reagieren nur vordergründig auf eine Wirklichkeit, vielmehr stellen sie selbst eine neue Wirklichkeit her. Sie verändern die Vorstellung von Bildung und die Einstellung zu dem, was Ziel und Aufgabe von Schule und Universität ist. Der Bologna-Prozess zeigt wesentliche Züge eines solchen propagandistisch inspirierten „Reformkunstwerks“: Eine Kerngruppe von Ministern und politischen Beamten unterzeichnete 1999 die Bologna-Erklärung, eine völkerrechtlich nicht verbindliche Absichtserklärung. Ziel war von Beginn an, Universitäten zum Ort „arbeitsmarktbezogener Qualifizierung“ zu machen.
Die kommunikative Strategie war seit Mitte der neunziger Jahre vorbereitet: Aus EU, Lobbygruppen, Regierung und wirtschaftsnahen Stiftungen wurde mit alarmistischer Rhetorik die Rückständigkeit der Universitäten im globalen ökonomischen Wettbewerb in dramatischen Farben ausgemalt. Die Lösungen zeichnete schon 1996 der damalige „Zukunftsminister“ Jürgen Rüttgers vor: Evaluationen von Lehre und Forschung, Qualitätssicherungsverfahren, ergebnisorientierte, effiziente Leitungs- und Managementstrukturen der Hochschulen, die Dienstleistungsbetriebe zu sein hätten. Die Bertelsmann-Stiftung gründete mit den Hochschulrektoren, die eine mögliche Opposition hätten darstellen können, das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Dessen Chef verkündete 2000, dass die Reform nicht „ohne innere Konflikte und vielleicht auch ,traumatische‘ Erfahrungen“ vonstatten gehen würde. Dennoch sei sie „unausweichlich“.
Dabei knüpfte man geschickt an bestehende Probleme der Hochschulen an, um kritische Geister ins Boot zu holen und Widerstand zu mindern. Hier war für jeden etwas dabei: Der Wirtschaft wurden mit ökonomistischem Vokabular jüngere und dennoch besser qualifizierte Absolventen versprochen, auf Leistung bedachten Konservativen die Senkung der Abbrecherquoten, den Studenten studierbare Studiengänge und den Universitäten mehr Autonomie. Das Anerkennungsstreben der Fachhochschulen spielte man gegen die Universitäten aus. Sozialdemokraten ließen sich suggerieren, der verschulte Bachelor sei die Verwirklichung einer „Bildung für alle“. Zugleich hielt das neoliberale Neusprech und Neudenk allerorten Einzug. Bildungs- und wissenschaftsferne betriebswirtschaftliche Steuerungsmuster wurden in neuen Hochschulgesetzgebungen verordnet. Beim „Hochschulfreiheitsgesetz“ in NRW hat das CHE die wesentlichen Inhalte gleich selbst vorformuliert. Universitäten wurden dadurch zu halbstaatlichen Unternehmen, kontrolliert von Wirtschaftsvertretern in einem Aufsichtsrat.
Ganz gemäß der zitierten Zersetzungs-Agenda wurden Kritiker als Ewiggestrige und ängstliche Blockierer dargestellt. Strategisch wurde die Reform zu einem Zeitpunkt lanciert, als Scharen von Professoren emeritiert wurden, die im Zuge des Hochschulausbaus der siebziger Jahre ins Amt gekommen waren. Die wandten sich mit Schaudern ab: Nach mir die Sintflut! Und die nachwachsende Generation lehnte sich mit Kritik kaum aus dem Fenster, wollte man sich doch die Aussichten auf eine Karriere nicht verderben.
So erwuchs das, was die Kölner Erklärung „Zum Selbstverständnis der Universität“ von 2009 scharfzüngig als „epistemische Säuberung“ beschreibt: Anpassung an die als unvermeidlich inszenierte Selbstaufgabe der Universitäten. Das neue Bild von Bildung und Wissenschaft als Dienstleistungsfaktor, der primär Stakeholder-Interessen zu bedienen habe, wurde auch in der Öffentlichkeit selbstverständlich. Sind all das nur unbeabsichtigte Nebeneffekte gutgemeinter Reformen? Oder wozu ruinieren wir mit vermeintlich angloamerikanischen Ideen unser Bildungswesen und lassen dabei die wirklichen Erziehungs- und Bildungsprobleme ungelöst? Hier denkt inzwischen mancher weiter: Das sind wohl eine Art verspätete Reparationszahlungen, bemerkte trocken ein Bildungsökonom neulich in der Kaffeepause einer Tagung. Denn was schwächt eine starke Volkswirtschaft, der man anders nicht beikommen kann, mehr, als deren Bildungswesen zu torpedieren?

( F.A.Z. vom 29. September 2011, Nr. 227, Seite 8 )
Download: krautz_sanfte_steuerung.pdf