Veröffentlicht am 22.04.17

Die Inklusionsschule – Sparmodell und Sackgasse?

Gastbeitrag von Michael Felten (SZ vom 22. April 2017, S. 5)

G8/G9 – die Debatte um die Länge der Gymnasialzeit schlägt derzeit vielerorts hohe Wellen. Dabei ist ein anderes Schulthema mindestens so bedenklich, wenn nicht brisanter: die Inklusion, der Gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderungen. Dessen Durchsetzung mit der Brechstange stellt unser ohnehin arg labiles Bildungssystem vor eine ziemliche Zerreißprobe.

Ein Blick nach Nordrhein-Westfalen – hier ist man in Sachen Inklusion besonders forsch – könnte andere Regionen warnen. Im bevölkerungsreichsten Bundesland dürfen nämlich immer weniger behinderte Kinder spezifische Förderschulen besuchen, die meisten müssen langfristig am Regelunterricht teilnehmen. Bisweilen betreut sie zwar zusätzlich ein Sonderpädagoge, in vielen Stunden aber nicht. Die bisherigen Spezialschulen löst die Schulministerin zunehmend auf, das Elternwahlrecht wird so schleichend ausgehöhlt. Das Verkaufsmotto dieses Düsseldorfer Radikalwegs lautet: Nur unter Regelschülern können sich behinderte Kinder gut entwickeln – und darauf haben Sie ein Anrecht. Die schon jetzt feststellbaren Folgen sind: behinderte Kinder, die man nur noch ruhig stellt; engagierte Lehrer, die sich vorzeitig pensionieren lassen; eine Heterogenität in den Klassen, die sich schlichtweg nicht mehr bewältigen lässt.

Aber ist solches Klagen nicht sinnlos, weil das Prinzip der Inklusion nun mal vorgegeben ist, durch Vereinten Nationen? Nun, die UN-Behindertenrechtskonvention wollte in der Tat dafür sorgen, dass auch Kinder mit Handicaps freien Zugang zum Bildungswesen haben – aber sie verlangt pikanterweise gerade nicht, unsere Förderschulen abzuschaffen. Diese sind ja genau jener Teil des allgemeinen Schulsystems, der spezifische Unterstützung bietet – was laut UN-Konvention ausdrücklich keine Diskriminierung ist, weil oberstes Kriterium immer das Wohl des einzelnen Kindes sein müsse.

Das Entwicklungswohl behinderter Kinder lässt sich aber nicht in Strukturen pressen, sondern ist eine individuelle Frage. Empirische Studien wie BiLieF oder RIM belegen eine Positivwirkung inklusiver Beschulung in der Primarstufe denn auch nur unter bestimmten Optimalbedingungen, dagegen gähnt in Sekundarstufe und Pubertät eine regelrechte Forschungslücke. Prinzipiell überschätzen Inklusionsbefürworter das individualisierte, selbstgesteuerte Lernen – und sie unterschätzen die Tiefe kindlicher Entwicklungsstörungen und seinen Schonraumbedarf.

Man könnte den Forschungsstand so bilanzieren: Entscheidend sind Unterrichtsqualität und Förderressourcen, nicht aber die Schulstruktur. Erfolgreichere Bundesländer wie Bayern stellen denn auch die Sonderpädagogik nicht aufs Abstellgleis, sondern haben inklusive Angebote geschaffen, aber die Förderschulen als Entwicklungsschonräume erhalten – und damit auch die elterliche Wahlfreiheit.

Für radikale Inklusionisten gibt es also keine Argumente aus der Wissenschaft – allerdings kräftige auf Finanzebene und aus der Ideologieküche. Zum einen gilt die Inklusionsschule insgeheim als ergiebiges Sparmodell: Man kann Gebäude abstoßen, Gehälter einsparen, Förderkräfte reduzieren. Regellehrer werden am Wochenende mal eben sonderpädagogisch upgedatet, hochqualifizierte Förderlehrer dagegen lässt man jetzt stundenweise beratend von Schule zu Schule rasen, von Schützling zu Schützling. Außerdem ist die Inklusionsschule auch ein bildungspolitischer Trojaner. „Gemeinsames Lernen“ klingt zwar paradiesisch, würde aber in letzter Konsequenz das gegliederte Schulsystem sprengen. Wenn jedes Kind jede Schule besuchen könnte und dort nur noch nach seinen Maßstäben gemessen werden würde, dann hätten wir landesweit eine aussagearme Einheitsschule. Wollen wir das wirklich?

Man kann durchaus bestimmte Schüler mit speziellen Beeinträchtigungen erfolgreich an Regelschulen integrieren – aber eben nicht zum Nulltarif: körperbehinderte Kinder etwa – falls entsprechende Räumlichkeiten und Hilfsmittel vorhanden sind; oder auch Flüchtlingskinder am Gymnasium – bei entsprechendem kognitivem Potenzial, und nach einem Crashkurs Deutsch. Aber es gibt Grenzen des Gemeinsamen. Lehrer können sich nun mal nicht beliebig auf unterschiedlichste Potenziale und Probleme aufteilen. Und „Lernbehinderte“ am Gymnasium, Kinder mit Down-Syndrom an Realschulen – ist das nicht reichlich surreal?

Es steht nur niemand auf und sagt laut und vernehmlich: „Was soll der Unsinn? Das führt doch ins Abseits!“ Warum geschieht diese Demontage des Bildungswesens so lautlos, werden Bedenken nur im stillen Kämmerlein geäußert, hinter vorgehaltener Hand? Vielerlei paralysierende Momente sind wohl beim Thema Inklusion im Spiel: Das Mitleid mit dem behinderten Kind eines Freundes, die Hoffnung auf eine menschlichere Gesellschaft, womöglich auch späte Schuldreflexe nach der NS-Euthanasie – nicht zuletzt auch die Angst vor dem Vorwurf politischer Inkorrektheit.

Dabei ist die radikale Inklusionsschule selbst ein grotesker Menschenversuch – oder wie anders soll man es nennen, wenn die noch amtierende Düsseldorfer Landesregierung sich einerseits damit brüstet, „kein Kind zurückzulassen“, andererseits aber Verhältnisse schafft, die gerade die Schwächsten benachteiligt – die bildungsfern sozialisierten und die behinderten Kinder? Und jede Hoffnung auf deutlich mehr Sonderpädagogenstunden ist nichts als Träumerei. Es gilt vielmehr, solch‘ kinderfeindlicher Politik in die Speichen zu greifen: Eltern, die für den Erhalt bedrohter Förderschulen kämpfen; Lehrer, die das Chaos inklusiver Klassen per Leserbrief öffentlich machen; Wähler, die ihrer Stammpartei die Stimme verweigern, wenn diese für Ideologie statt Bildung eintritt.

Kinder mit und ohne Behinderung dürfen keine Spielbälle sein – weder für Sparfüchse noch für Schulideologen. Gerungen werden muss um eine Inklusion mit Augenmaß: um die ausgewogene und dynamische Kooperation von integrationsoffenen Regelschulen und ergänzenden Förderschulen – um das also, was der renommierte Heil- und Sonderpädagoge Otto Speck als „dual-inklusives Schulsystem“ bezeichnet hat. Die Devise kann nur sein: So viel hochqualitative Integration wie möglich, so viel durchlässige Separation wie nötig! Jedes Kind soll an dem für es sinnvollsten Ort lernen können – und dies kann durchaus auch, wie weltweit üblich, zeitweise eine Spezialschule oder Separatklasse sein.

Führen wir also eine offene Debatte darüber, was an der Inklusion sinnvoll und machbar ist und was nicht, ohne Tabus, ohne Maulkörbe. Sonst bleiben am Ende nur Verlierer übrig, bei den Lehrern und bei den Schülern, solchen mit Behinderung ebenso wie ohne.

Michael Felten, 65, arbeitet als Gymnasiallehrer und freier Schulentwicklungsberater in Köln – seine Info-Plattform zum Thema: www.inklusion-als-problem.de

Der Beitrag als PDF: Die Inklusionsschule – Sparmodell und Sackgasse?