Veröffentlicht am 02.05.20

Die Entzauberung eines Mythos

Was Schulen jetzt (nicht) brauchen.  Zehn Folgerungen aus der Zeit der Schulschließung und Daheimbeschulung.

Gastbeitrag von Christian Bauer, München

Digitale Medien sind ein Segen in Zeiten der Schulschließungen.
Ob Email, Austauschplattform, Lernprogramm, Telefon- oder Videokonferenz – all das ermöglicht, die Kommunikation zwischen Lehrkräften und Schülern und die Hoffnung, dass der Unterricht zumindest rudimentär aufrechterhalten werden könne. Wenigstens wenn die entsprechende technische Infrastruktur (Breitband u.v.m.) vorhanden ist.

Da konnten natürlich diejenigen nicht fehlen, die zu Beginn der Coronakrise den Jubelgesang auf das endgültige Ende der „Kreidezeit“, des altmodischen analogen Unterrichts und den Sieg der „Digitalen Bildung“ über die verkrustete „alte Schule“ anstimmten. Fünf Wochen später ist dieser Gesang erstaunlich leise geworden: ein Großteil der Eltern, Lehrer und Schüler singt nämlich nicht mehr mit. Vielen Betroffenen wurde in der realen Corona-Schulsituation klar, dass die Heilsversprechungen, mit denen die Interessenvertreter der Hard- und Softwareindustrie seit Jahren die Öffentlichkeit und Bildungsverantwortlichen vor sich hertreiben, sich in der nunmehr erzwungenen Realität als wenig belastbar erwiesen haben.

1. Egal, wie man zum sog. Digitalpakt steht: Auch die Ausschöpfung der darin vorgesehenen Mittel und die komplette Ausstattung aller Schulen mit interaktiven Whiteboards, Tabletkoffern, Laptopwagen oder WLAN hätte an den Problemen der Daheimbeschulung in Coronazeiten wenig geändert (denn diese Geräte stünden ja in den mit Betretungsverbot belegten Schulen).

2. Die tatsächlichen Schwierigkeiten gründen nämlich in technischer Hinsicht in der privaten Ausstattung der Lehrkräfte und vor allem der der Schülerinnen und Schüler. Technische Mindestvoraussetzungen für eine sinnvolle Fernbeschulung via Internet wären ein ruhiger Einzelarbeitsplatz mit angemessen großem Bildschirm, Tastatur, Maus, hochwertiger Kamera und Tontechnik sowie vor allem eine leistungsfähige Internetanbindung. Gäbe es solche Arbeitsplätze im Wohnzimmer oder der Küche einer Dreizimmerwohnung für z.B. zwei Elternteile (Home Office) und zwei Kinder (Home Schooling), dann wäre es keine Wohnung, sondern ein Großraumbüro oder ein Fernsehstudio.

3. Ein weiteres Narrativ der Schuldigitalisierer wurde durch die Coronaerfahrungen ebenfalls widerlegt: es seien die Lehrkräfte, die durch ihre technik- und zukunftsfeindliche Haltung den Fortschritt in den Schulen hemmten. In der Zeit der Fernbeschulung zeigte sich indes deutlich, dass der größte Teil der Lehrkräfte sehr wohl in der Lage ist, im Rahmen der Möglichkeiten mit Internet, Lernplattformen, Lernprogrammen etc. ein sinnvolles Lernangebot auf digitalem Wege zu machen. Allerdings sind sich die Mehrzahl der Lehrkräfte, Eltern und Schüler mittlerweile einig, dass es sich bei dieser Form der Beschulung um eine der Not geschuldete, allenfalls zweitbeste Lösung handelt.

4. Dem Digitalnarrativ zu Grunde liegt ein fundamentales Unverständnis des Lehr-Lern-Prozesses und der Lehrer-Schüler-Beziehung. Dieses Unverständnis wiederum geht einher mit der der Digitalisierung inhärenten Reduktion eines äußerst komplexen Gefüges auf binäre Bausteinchen. Ginge es beim Lernen wirklich nur darum, dass irgendein Informationshäppchen auf dem Bildschirm angeboten, womöglich irgendwie animiert und schließlich in einem (letztlich doch binären) pseudointeraktiven (nicht interpersonalen!) Geschehen geübt wird, dann wären „digitales Lernen“ und „digitale Bildung“ tatsächlich einfach.

5. Und ja: Es gibt didaktisch hilfreiche Digitaltechnik, Anschauungsmaterial und Übungsmöglichkeiten, die manchen Schülern das Lernen erleichtern. Es gibt Jugendliche, die mit genau diesen Lernangeboten besonders gut zurechtkommen. Das soll Schule auch zukünftig ermöglichen und nutzen! Aber: Informationspräsentation und Informationsaneignung stellen nur einen winzigen, wiewohl wichtigen Ausschnitt im Lernprozess dar; und auch dieser Ausschnitt wird i.d.R. durch einen digitalen Prozess weniger erfolgreich geleistet als mithilfe einer guten Lehrkraft.

Was daher (allgemeinbildende) Schulen in der Nach-Corona-Zeit sicher nicht brauchen:

6. Immer mehr teure und störungsanfällige, interaktive Hightech-Tafeln, die zwar Symbol technischen Fortschritts sind, aber didaktisch und inhaltlich den Unterricht keinen Schritt weiterbringen, zumal bei Berücksichtigung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses. (Und für einen kulturellen Fortschritt wird man es nicht halten, dass statt mit einem Stift auch mit dem Finger geschrieben werden kann).

7. Weitere BYOD-Kampagnen („Bring your own device”): Den meisten Schülerinnen und Schülern (sog. digital natives) dürfte mittlerweile aufgefallen sein, dass das allgegenwärtige Smartphone zwar ein Wunderwerk der Technik ist, es aber nicht möglich ist, auf dem Display ein halbwegs anspruchsvolles Arbeitsblatt auch nur rein optisch lernförderlich darzustellen, geschweige denn einen inhaltlichen Überblick zu bieten. Das Smartphone ist und bleibt, was Apple-Gründer Steve Jobs gesagt hat: Unterhaltungselektronik für Erwachsene. Für die meisten Lern- und Unterrichtskontexte der allgemeinbildenden Schulen ist es ein untaugliches Gerät.

8. Tablet-/ipad-Klassen: Ganz abgesehen von der Frage, wer den Begriff „ipad-Klasse“ in den Bildungsdiskurs einführt hat – warum gibt es eigentlich keine „Galaxy-Klassen“? (War der Lobbyist von Apple schneller im Bildungsministerium als sein Kollege von Samsung?) Auch für Tablets gilt, dass die Displaygröße für viele Unterrichtsinhalte und tatsächlich sinnvolles Arbeiten eher zu gering ist; ähnliches gilt für die Eingabegeräte (Tastatur, Maus). Das Kosten-Nutzenverhältnis rechtfertigt auch hier die flächendeckende Ausstattung der Schulen nicht. Die meisten Schüler erwarten darüber hinaus zu Recht, dass nach der Coronazeit in der Schule wieder „richtiger“, interpersonaler Unterricht stattfindet und sie nicht mit Geräten abgespeist werden.

9. WLAN und noch breitere Breitbandverbindungen nach der Devise „5G an jedem Federmäppchen“. Wie Lehrer, Eltern und vor allem Schüler gerade unfreiwillig erfahren haben, funktioniert guter Unterricht in erster Linie eben nicht im und durch das Internet und auch nicht über Lernäpps. Für die sinnvolle Unterrichtseinbindung von Inhalten aus dem Netz reicht eine funktionierende (kabelgebundene) Internetanbindung des Lehrerrechners.

Was brauchen Schulen tatsächlich?

10. Zeitgemäße Schulen benötigen ein funktionierendes, digitales AV-Medienensemble in jedem Unterrichtsraum. Dieses beinhaltet u.a. auch professionelle Installation (Verkabelung, Signalmanagement) und entsprechendes Spezialmobiliar. Die Installation und Wartung von Hard- und Software können nicht „nebenbei“ von Lehrkräften erledigt werden. Vielmehr bedarf es dazu zusätzlicher personeller Ressourcen. Lernplattformen und Kommunikationssysteme zwischen Lehrern und Schülern müssen höchsten, europäischen Datenschutzanforderungen genügen. Es ist empörend, dass Lehrern und Schülern seitens etlicher Schulbehörden für die Zeit der Daheimbeschulung Softwarelösungen amerikanischer Anbieter wie MS Teams oder Zoom aufgedrängt wurden, die die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) massiv unterlaufen.

Nach fester Überzeugung der meisten Lehrenden an allgemeinbildenden Schulen ließe sich der bei weitem positivste Effekt für das Lernen und die Bildung der Schülerinnen und Schüler durch eine grundsätzliche Verkleinerung der Lerngruppen erzielen. Keine Klasse über 20 Schüler! Die Schule als Lernort, an dem sich die Schülerinnen und Schüler wohlfühlen, weil sie in ihrem Klassenraum genügend individuellen Platz haben, dort nicht nur zu Pandemiezeiten für hygienische Verhältnisse gesorgt wird und das Mobiliar nicht sperrmüllverdächtig ist – hier ließen sich die Bildungsmilliarden sinnvoller investieren als in die zweitbeste Lösung!
Es wäre zu wünschen, dass die jetzt zutage getretene Ernüchterung bezüglich der Verheißungen der sog. Digitalen Schule dazu führt, dass wieder die Vorstellung des autonomen, vernünftigen Menschen im Sinne Immanuel Kants in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen und bildungspolitischen Diskurses rückt. Das wäre auch ein wichtiger Baustein für die Zukunft der liberalen Demokratien und der Menschenrechte nach unserem heutigen, westeuropäischen Verständnis. Sapere aude!

* Christian Bauer ist Lehrbeauftragter für Medienpädagogik am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung der LMU München, Gymnasiallehrer sowie Seminarleiter und Staatsexamensprüfer in der 1. und 2. Phase der Lehrerausbildung.