Veröffentlicht am 05.05.20

Didaktisierung statt Digitalisierung!

Ein Gastbeitrag von Eberhard Keil

 

Homeoffice für Kinder und Jugendliche?

Die Schließung der Schulen  und Kitas Mitte März und der Übergang zum sogenannten „Homeschooling“, einer Art Fernbeschulung, sorgte in den betroffenen Familien für noch gravierendere Veränderungen als dessen berufliches Pendant, das „Homeoffice“, an das es sich sprachlich anlehnt. Fernunterricht war bisher ein Randbereich des Bildungswesens und diente Erwachsenen zum nachholenden Erwerb von Bildungsabschlüssen. Das anfänglich motivierte Engagement von Schülern, Eltern und Lehrern mit dieser Situation umzugehen war zu einem Gutteil deren Neuigkeit geschuldet, welche im Bildungswesen stets dem frustrierenden Routinelernen eine Zeitlang neugierig-kreative Flügel verleiht. Nach sechs Wochen ist aber dieser anfängliche Schwung verflogen: „Viele vermissen die Schule“ und ähnliche Formulierungen findet man in den Schlagzeilen und Leserbriefen der Presse. Die anfänglich eher stereotyp auf die Defizite der „Digitalisierung“ verweisende Kritik von Politikern und Instituten (v.a. Lobbyisten) wird von harschen Vorwürfen der betroffenen Eltern, Schulen und Schüler am „Desaster“ dieses Fernunterrichts überlagert. Viele Eltern haben inzwischen eine Ahnung davon bekommen, welche Belastung in den Lehr- und Erziehungsberufen zu bewältigen ist – weit über die Kerntätigkeit der Bildungsaufgabe hinaus, und das, obwohl sie daheim „nur“ ihre ein oder zwei Kinder betreuen und nicht wie viele Lehrer am Vormittag fünfmal dreißig – am Nachmittag kommen die Vor- und Nachbereitung, Korrekturen und Konferenzen ja noch dazu.

Auffallend ist, dass sich die kritischen Stimmen vor allem auf Fragen der Ausstattung („Digitalisierung“, Toiletten) und Organisation (Abstand, Lerngruppengröße, Mundschutz, Prüfungen) beziehen und so gut wie gar nicht auf Fragen der Pädagogik, pädagogischen Psychologie, Didaktik und Thematik dieser neuen Situation. Dies liegt m.M.n. daran, dass im Zeichen der „Neuen Lernkultur“ auf diesen Feldern eine technokratisch-technizistische Verarmung vollzogen wurde mit einer Beschränkung auf eine von Inhalten und Didaktik losgelöste Methodik („neue Lernformen“), deren utilitaristische Zielsetzung sich auf das Coachen (Lehrer, „Lernbegleiter“) und Trainieren (Schüler, Lernende) von „Lernjobs“ im Rahmen eines „Kompetenzrasters“ fokussiert und die dabei vor allem materialgestützte Selbstlernkonzepte verfolgt. Der geistige Ursprung dieser Art von „Lernkultur“ ist seit den 90er Jahren in den Ausbildungskonzepten großer Unternehmen (Daimler, Siemens) zu finden und ebenso die dazugehörige den humanistischen Bildungsgedanken mit Füßen tretende neue „Philosophie“ des Lernens. In den Schulen – vor allem in den Gemeinschaftsschulen – wird diese Auflösung interpersonalen Lernens durch Zettelpädagogik noch dadurch abgemildert, dass den Kindern ausgebildete Lehrer als „Lernbegleiter“ zur Seite gestellt werden, um die Lerndisziplin der „Lernpartner“ aufrecht zu erhalten, und sie Schulkameraden als entlastendes Umfeld haben. Damit das „Selbstlernen“ und Abarbeiten der „Lernpakete“ nicht völlig in der Luft hängt, zeigt man anfangs des Öfteren auch ein „Erklärungsbeispiel“ oder einen „Erklärungsfilm“. Die Erfolge solcherlei Lernens kommen meist nur als theoretische Postulate daher, die Misserfolge besonders der lernschwächeren Kinder aus „bildungsfernen Milieus“ aber ließen sich von Anfang an nicht verbergen

Was beim „Homeschooling“ nicht klappt

Ich lese in der Zeitung von einer Gemeinschaftsschullehrerin (Mathematik Kl. 5-9): „Unsere Kinder werden ohnehin ans selbstständige Arbeiten gewöhnt. Wir planen in längeren Zeiträumen – und wir hatten Material bis Ostern.“ Dieses wird über eine passwortgeschützte Homepage verschickt, aber oft nicht runtergeladen. „Ich habe Lernpakete mit frankiertem Rückumschlag geschickt, da habe ich nur die Hälfte zurückgekriegt.“ Eine Realschullehrerin berichtet, dass die YouTube-WhatsApp-Generation nicht mehr die Kulturtechnik E-Mail beherrscht, Aufsätze in die Betreffzeile schreibe und außerstande sei ein Bild anzuhängen. Die Kinder seien „völlig alleingelassen“, sagt die eine, „viele jammern und sagen, sie würden gern wieder in die Schule gehen“, sagt die andere. Und ein Stuttgarter Hauptschullehrer (Englisch) berichtet vom völligen Scheitern eines „Wochenplans“: „Die brauchen jeden Tag eine neue Anweisung, was sie heute machen sollen – samt Uhrzeit.“ Die Nicht-Erreichbarkeit der Schülerinnen und Schüler schwankt über alle Schularten hinweg zwischen 20 und 80 Prozent (eine Mannheimer Schule).

Ich wage zu bezweifeln, dass die Ursache dieses beklagenswerten Zustands häuslichen Lernens vor allem in Defiziten digitaler Kommunikation liegt, denn die Schuljugend von heute beherrscht YouTube und WhatsApp samt der dazugehörigen Möglichkeiten von Videotelefonie und Videokonferenzen und E-Mail ist für sie leicht wieder erlernbar. Die wirklichen Gründe sind anderweitig zu suchen:

Materialgestützte Selbstlernkonzepte, die Überflutung mit Arbeitsblättern – Eltern berichten von 60 bis 80 Seiten Ausdruck -, Wochenpläne, deren Austausch zwischen den Lehrern noch die Fülle erhöht, all das ist alles andere als motivierend. Die Technik wird zur Geißel der Kinder und Jugendlichen.

Eltern sind als „Lernbegleiter“ – hier könnte der Begriff Sinn machen – meist überfordert. Nur wenige können helfen, auch weil ihnen Voraussetzungen und Systematik der Zettelkonzepte undurchschaubar bleiben – die Arbeit mit einem Lehrbuch wäre hier viel besser. So müssen sich die meisten darauf beschränken, das Lernen der Kinder zu beaufsichtigen, bei vielen reicht es nicht einmal dazu. So fehlt die unverzichtbare soziale Dimension beim Lernen. Selbst bei gelingender digitaler Kommunikation mit den Lehrern geht dem technischen Kontakt das empathische Miteinander weitgehend verloren. Das Hauptdefizit aber: Die Kinder und Jugendlichen vermissen ihre Mitschüler – also das, was immer schon das Beste war, was Schule zu bieten hatte, wenigstens in den Pausen.

Schulisches Lernen ist seinem Wesen nach kein technisches, sondern ein subjektives und interpersonales Geschehen. Häusliches Lernen ist kein bloßer Orts- und Kurswechsel, sondern ein ganz anderes Bildungssystem mit anderen Voraussetzungen, Zielen und Formen. Während die Schule Lernprozesse und –gegenstände elementarisiert, entwickelt und entfaltet, schrittweise und systematisch zum komplexen Verstehen anleitet, ist das außerschulische Lernen – darunter das häusliche – unmittelbar viel komplexer, lebensnäher, ungeregelter, chaotischer und nur sehr begrenzt, z.B. beim Üben, „elementarisiert“ und systematisch entwickelt. Das gibt dem Einen gegenüber dem Anderen keinen höheren Wert, denn die Entwicklung zur gebildeten Persönlichkeit erfordert beides. Aber es bedeutet auch, dass das häusliche Lernen unmöglich die bloße Fortsetzung, Verlängerung oder Ersetzung der Schule sein kann.

Positiv! – Was aber dann?

Ein Drittel des gegenwärtigen Schuljahres bleibt von der weitgehenden Schließung der Schulen bestimmt. Das entspricht dem zeitlichen Verlust der Kurzschuljahre in den 1960ern, als man den Schuljahresbeginn von Ostern auf den September verschob. Anders als damals ist das gegenwärtige „Kurzschuljahr“ aber völlig ungeplant und die Unterrichtseinbuße damit nicht vergleichbar. Auch das kommende Schuljahr wird massive Einschränkungen des Präsenzunterrichts erfahren, die sich zwischen einem und zwei Dritteln bewegen dürften. Während das Abitur dieses Jahr weitgehend noch unter geklärten Voraussetzungen ablaufen kann, wird das achtjährige Gymnasium (G8) dann de facto zu einem G7 werden. Allein deshalb schon ist es Zeit, diesen bildungspolitischen Unsinn zu beenden und zum neunjährigen Gymnasium (G9) für alle zurückzukehren, denn die Verluste an schulischer Bildungszeit treffen ja nicht nur den nächsten Abiturjahrgang, sondern alle anderen Schüler bis zur ersten Grundschulklasse auch. Selbiges gilt übrigens auch für das anderthalbjährige Referendariat, welches unter Corona-Bedingungen einen grotesken Charakter annimmt. Für eine halbwegs geordnete Lehrerbildung ist ein viertes Halbjahr unausweichlich.

Man wird in den Kitas und Schulen die Zeit bis zum Ende der Pandemie schulisch nur mit kleineren stabilen Lerngruppen bewältigen können und dies auf der Basis der vorhandenen Ressourcen räumlicher und v.a. personeller Art. Dies bedeutet keine doppelte oder dreifache Zahl an Lernveranstaltungen pro Schule, sondern eine halbierte oder gedrittelte Zahl an Lernveranstaltungen pro Schüler/Schülerin, je nachdem wie man die Gruppengröße bestimmt. Mindestens die Hälfte, wenn nicht zwei Drittel der Lernzeit werden also auf absehbare Zeit häuslicher Natur sein, wobei sich die Situation insofern bessert, als dann eine Anbindung an den Präsenzunterricht vorhanden ist. Der Begriff der „Hausaufgabe“ gewinnt dabei eine völlig neue Bedeutung und bedarf kluger Überlegung und Planung. Während das systematische Erlernen von Grundsätzlichem (Rechenarten, Grammatik, Aufsatzlehre, physikalische und andere naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten usw.) und die Auswertung des häuslich Geleisteten Schwerpunkte im Schulischen bilden, fällt der Aufgabenstellung für das außerschulische Lernen eine entscheidende Wichtigkeit zu, der gegenüber die Fragen der Digitalisierung verblassen.

Die Größe der Lerngruppen definierte sich in der bisherigen Diskussion nach dem Abstandsgebot, den Tischabständen in den Klassenzimmern. So kam man „virologisch“ auf ca. 15 Schüler pro Lerngruppe. Geht uns da nicht das pädagogische Herz auf, liegt doch die ideale Klassengröße – nicht zu klein, nicht zu groß – bei 15-20 Schülern? Man will allerdings mit den „wichtigen“ Jahrgängen der Abschluss- und Übergangsklassen anfangen, denn von den Jüngeren weiß man, dass sie den Abstand nicht halten werden und Gesichtsmasken nur an Fasching tragen. Sie werden alle den Abstand nicht halten und je mehr die Schule hier diszipliniert und eingrenzt, umso mehr weckt sie den Widerstand der Jugendlichen, welcher – zum Glück – von jeder Erziehung ausgeht: Selbstbehauptung. Ist die Aufsicht weg, spätestens auf dem Nachhauseweg, rottet sich das Rudel zusammen. Abstandsregel im Kindergarten?

Außer in den oberen Klassen (und bei Klassenarbeiten) sind Tischabstände in den Schulen sinnlos, und man sollte gar nicht versuchen, jüngere Kinder und Jugendliche auf diese Weise auseinander zu halten. Dann aber sind unter Corona-Bedingungen 15-20 Schüler keine ideale Größe mehr, sondern eher die Hälfte, also 7-10, wodurch der Präsenzunterricht an den Schulen auf etwa 10-12 Wochenstunden reduziert werden müsste. Stabile Gruppen bis 10, in den Kitas bis 5 Kinder, könnten dann aber altersgemäß völlig „normal“ interagieren, weil die Nachverfolgung eventueller Infektionen dann keinen Kreis von 15 Familien umfasste, also 50-60 Personen, sondern deutlich weniger.

Das dabei initiierte und eingebundene außerschulische Lernen muss nach dem oben Gesagten von der Aufgabenstellung her realitätsnah, konkret und komplex angelegt sein und dem sozialen Bedürfnis der Kinder und Jugendlichen entgegenkommen, also Langeweile und Kontaktarmut möglichst vermeiden. Neben dem Üben von Erlerntem – meinetwegen auch mit Zetteln – sollten die Aufgaben vor allem kooperativer Art sein, also projektartigen Charakter haben, wobei die jeweilige Lerngruppe bzw. Teile von ihr zusammenarbeiten, sei es via Telefon, WhatsApp, sei es im Park oder Garten. Es ist die didaktische Kunst der Lehrer, solcherlei interessante Ansatzpunkte nicht nur in der künstlichen Wirklichkeit der Schule, sondern in der „wirklichen“ Wirklichkeit außerhalb zu finden und mit schulisch Erlerntem als Aufgabenstellungen zu formulieren.

Völlig ins Unreine und nur als Denkanstöße hier ein paar Beispiele: Im Fach Geschichte könnte man telefonische Zeitzeugenbefragungen mit älteren Menschen durchführen, dokumentieren, zusammenfassen und auswerten; Denkmäler, Straßennamen; in Mathematik statistische Aufgaben aus Zeitungslektüre, eigenen Messungen, Kurvendarstellung; in Geografie Wetterbeobachtungen, „Klima“; in Chemie könnte man die Angaben auf Lebensmitteln unter die Lupe nehmen und sich damit befassen, in Biologie Verhaltensforschung im Zoo betreiben. Museen in der Nähe, Zeitungslektüre und Ganzschriften bieten ungeheure Bildungsmöglichkeiten. Am Ende sollte immer eine individuelle angemessene Darstellung (Aufsätze jeder Art und jedes Umfangs) und Bewertung stehen, um die Ausdrucksmöglichkeiten der Jugendlichen zu fördern.

Nicht Digitalisierung ist das Gebot der Stunde, sondern Didaktisierung.