Veröffentlicht am 13.05.24

Der Jammer der Selbstbespiegelung – Latein und Kompetenzdidaktik Beispiele aus der Bildungsverhinderungspraxis

Der Jammer der Selbstbespiegelung – Latein und Kompetenzdidaktik

Beispiele aus der Bildungsverhinderungspraxis

von Werner Fenger

 

Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit

Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln;

Was Ihr den Geist der Zeiten heißt,

Das ist im Grund der Herren eigner Geist,

In dem die Zeiten sich bespiegeln.

Da ist’s denn wahrlich oft ein Jammer!

Man läuft Euch bei dem ersten Blick davon.[1]

 

Der Lateinunterricht hat bei uns eine lange Tradition: Das liegt nicht nur an unserer gemeinsamen Geschichte mit den Römern und an den eng miteinander verwobenen Kulturen. Attraktiv ist Latein als Schulfach auch deswegen immer gewesen, weil es klare Anforderungen stellt, an denen man sich bewähren muss: Keine schlechte Eigenschaft gerade auch für Zeiten steigender Noteninflation.

Häufig standen und stehen die Alten Sprachen aber auch in der Kritik: Das gehört ebenfalls zu ihrer Tradition. Der Vorwurf, dass Latein eine tote Sprache sei, mag derselben fachlichen Rigorosität geschuldet sein, durch die es auch überlebt hat. Die altsprachliche Lebensferne, ja Lebensfeindlichkeit ist bisweilen künstlerisch verarbeitet worden: Hesses „Unterm Rad“ oder Heinrich Manns „Professor Unrat“ beispielsweise setzten ihnen zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein literarisches Mahnmal. Thomas Mann dagegen betont drei Jahrzehnte später – in politisch düsteren Zeiten – die notwendige Zusammengehörigkeit von „Humaniora und Humanismus“. Wichtig sei es, die Alten Sprachen, die Humaniora, als Quelle des Humanismus zu bewahren. Seine in Fürsprache der Humaniora geäußerte Verurteilung einer „illiteraten, in Technik und Sport stumpfsinnig aufgehenden Welt, deren Sprachverlumpung ihrer moralischen Verrohung und Verarmung gleichkommen zu wollen scheint“[2], richtete sich in ihrer Schärfe zwar gegen den antihumanistischen Nationalsozialismus und dessen „Schulfeindschaft“[3]. Der Kern der Botschaft Thomas Manns ist aber von zeitlos-allgemeiner Gültigkeit: Es ist Aufgabe jeder Epoche, sich ihrer humanistischen Tradition bewusst zu werden, sie zu überdenken und wirksam zu halten. (Dass einige altsprachliche Gymnasien sich schon deswegen ‚humanistisch‘ nennen, weil sie die Humaniora fördern, ist ein sprachliches Missverständnis; doch zeigt sich auch darin, wie sehr Humanismus und Humaniora zusammengehören.)

Es ist also richtig, auch den Lateinunterricht immer wieder auf den Prüfstand zu stellen; nicht vordergründig auf seine Zeitgemäßheit hin, denn gewöhnlich ist ja gerade das Unzeitgemäße zeitgemäß. Vielmehr gilt es, das Lateinische auf die Wirksamkeit und Gültigkeit seines Humanismus hin stets neu zu reflektieren und zu interpretieren. Latein muss als Bildungsfach ernst genommen werden.

Dieses Anliegen darf man auch der Kompetenzdidaktik unterstellen, die seit nunmehr 20 Jahren unser Schulwesen bestimmt und dabei den Lateinunterricht einem tiefgreifenden Wandel unterzogen hat. Es ist ein Wandel, der in seinen Folgen schlimmer nicht hätte sein können. Denn die Kompetenzdidaktik zerstört die Bildungswirksamkeit des Lateinischen. Der Akt der Performanz, konzeptionelles Kernstück der Kompetenz­didak­tik, erfasst weder Sinn noch Struktur von Bildung. Die kompromisslose Anwen­dungsdidaktik der Kompetenzorientierung, basierend auf niedrigschwelligem Parallelisieren, Ver­glei­chen und Erleben, ist bildungsunwirksam, weil sie am falschen Ort beginnt und auch dort endet, ohne dass sich etwas bewegt hätte: Im Subjekt und seiner subjektiven Befindlichkeit. Wenn ich mich verstehe, verstehe ich auch die Antike. Wenn ich die Antike verstehe, verstehe ich auch die Gegenwart: So könnte man formelhaft die naive Hermeneutik der Kompetenzdidaktik zusammenfassen. Das verkehrt, wie wir an den folgenden Beispielen, die man beliebig erweitern könnte, sehen werden, den Bildungsgedanken gerade in sein Gegenteil. Wo kompetenzorientiert Latein gelernt wird, da kommt es vor antiker Kulisse zur oberflächlichen Selbstbespiegelung einer Gegenwart, die weder sich noch das Fremde erkennt.

Aeneas: Moderner Flüchtling der Antike

Im Rahmen des Inhaltsfeldes „Mythos und Religion“ thematisiert das Lehrwerk „Pontes“ in den Lektionen 12 und 13 die Aeneas-Sage[4], zunächst Aeneas‘ Flucht aus dem brennenden Troja, schließlich die Ankunft des trojanischen Helden mit seinen Gefährten in Italien. Eine bunte Zeichnung zeigt, wie die Trojaner von ihren Schiffen aus mit freudigen Gesichtern auf die Küste ihrer künftigen Heimat blicken. Dazu gehört eine sogenannte „Entdeckeraufgabe“:

Stelle Vermutungen an, wie die trojanischen Flüchtlinge sich gefühlt haben, als sie die Küste Italiens zum ersten Mal erblickten. Vergleiche die Situation der Trojaner mit der von Flüchtlingen in heutiger Zeit.

In den für (registrierte) Lehrkräfte online abrufbaren Zusatzmaterialien[5] wird diese „Entdeckeraufgabe“ wie folgt didaktisch erläutert:

Der in der Entdeckeraufgabe angeregte Vergleich mit den Flüchtlingsschicksalen der modernen Zeit, [sic] bietet eine gute Möglichkeit der Aktualisierung des Lateinunterrichts. Die SuS erkennen, dass es Flüchtlinge zu jeder Zeit gegeben hat und dass ihre Not, aber auch ihre Hoffnungen früher und heute durchaus vergleichbar waren. Die Betrachtung eines Flüchtlingsschicksals (der Trojaner) aus großer zeitlicher Distanz, [sic] ermöglicht es, die Flüchtlingsproblematik von heute losgelöst von der aktuellen politischen Situation und Diskussion als menschliche Ausnahmesituation zu begreifen.[6]

Die Schüler sollen angeregt werden, in einem Performanz-Akt binnenkulturelles und kulturübergreifendes Verständnis zu gewinnen. Das Fremde und Trennende zwischen Moderne und Antike soll überwunden und ein kulturüberschreitender Emotionsträger als gemeinsamer Nenner gewonnen werden. Diese Rolle soll ein „Flüchtling der modernen Zeit“ übernehmen, der als ein von der „aktuellen politischen Situation und Diskussion“ befreiter Flüchtling zum Identifikationsmodell wird. Die Eigenschaft eines solchen auf das Wesentliche reduzierten Flüchtlings ist es, auf der Flucht zu sein und sich eine Heimat zu wünschen. Auch die Trojaner sehnen sich nach einer Heimat, wie man ihren Gesichtern ansieht. An ihren Emotionen teilhabend, „begreifen“ wir nun aus „großer zeitlicher Distanz […] die Flüchtlingsproblematik von heute“. Damit ist Historische Kommunikation hergestellt und eine „Aktualisierung des Lateinunterrichts“ gelungen. Zugleich erkennen wir, vom Heute aus zurückschauend, dass schon Aeneas ein Flüchtling war, dass es also überzeitlich-transkulturelle Erscheinungsformen des Menschlichen gibt, die uns einander verstehen lassen.

Das Ergebnis dieses kulturkompetenten Pingpong-Spiels besteht insgesamt in der Erkenntnis, dass ein antiker Flüchtling in der Antike und ein moderner in der Moderne auf der Flucht ist. Ein banales Ergebnis – wenn es denn richtig wäre: Denn der auf Identifikation zielende Performanz-Akt verfälscht für seine Zwecke sowohl unsere Ausgangskultur als auch die römische Zielkultur. Weder ist es unerheblich für den „Ausnahmezustand“ eines „losgelösten“ Flüchtlings, ob er ein politischer, religiöser, Klima- oder Steuerflüchtling ist; noch ist Aeneas überhaupt ein Flüchtling, wenn er auch anfangs aus dem brennenden Troja flieht. Er weiß sich ja von Beginn an als Teil eines göttlichen Planes in seinem Schicksal aufgehoben. Er hat eine Mission. Er verlässt als Königsanwärter und möglicher Gatte Didos freiwillig Karthago, um in Italien das Geschlecht der Trojaner neu zu gründen. Er ist außerdem im Besitz seetüchtiger Schiffe und navigatorisch erfahrener Kampfgefährten. Das alles ist offensichtlich zu differenziert für einen Performanz-Akt, der sich über jegliche Sachinhalte stellen muss, damit sein simples pädagogisches Ansinnen, die Identifikation, gelingen kann[7]. Nicht das Trennende und Fremde, an dem man lernen könnte, interessiert die Kompetenzdidaktik, sondern das emotional Gemeinsame zwischen Antike und Gegenwart, und zwar auch dann, wenn das Gemeinsame gar nicht gemeinsam ist: Dann wird es gemeinsam gemacht. Aeneas soll ein Flüchtling sein, damit wir lernen, was ein Flüchtling ist. Da aber, wer nur das Wort kennt, schon weiß, was ein Flüchtling ist, könnte man sich den Umweg der tautologischen Selbstbespiegelung in der kompetenzdidaktisch manipulierten Aeneas-Gestalt gleich ganz ersparen. In dieser „Aktualisierung des Lateinunterrichts“ findet weder Aktualisierung noch Lateinunterricht statt.

Otium: Chillen bei den Römern  

In der vierten Lektion[8] des Lehrbuchs „Pontes“ geht es um die römische Schule. Das bekannte Neumagener Relief, das eine antike Unterrichtsszene zeigt, soll zunächst zum Vergleich mit der heutigen Schule anregen. In der „Sachinfo“ zur Lektion heißt es zum römischen Schulwesen: „Die Elementarschule: Lernfreude stand nicht auf dem Stundenplan.“ Oder: „Die unterste Schulstufe hieß zwar ludus, aber die wenigsten Kinder haben sie wohl als ‚Spiel‘ empfunden“ Oder: „Meist war der Unterricht eintönig: Der Lehrer (magister) las etwas vor und die 20 bis 30 Schüler(innen) sprachen es im Chor nach. Vieles musste auswendig gelernt werden“. Entsprechend darf der fiktive Schüler Lucius folgende Kritik üben:

 

Lucius: „Cur semper discere debeo?“

Magister: „Num iam bene scribere et legere potes?“

Lucius: „Non possum. Puer sum. Pueri otium amant. Ludere delectat.“

Magister: „Liberi officium habent: Discere debent.“

Lucius: „Sed…“

Magister: „Tace, Luci! Lege!“

 

Die Verfasser wollen mit diesem kleinen Streit – es handelt sich um einen Ausschnitt aus dem Lektionstext – einen lebendigen Eindruck von der Bildungsfeindlichkeit römischen Elementarunterrichts vermitteln und den Unterschied von negotium und otium einführen. Sie gewähren aber zugleich auch indirekt einen Einblick in die heutige Vorstellung von Schule. Denn die Inszenierung des antiken Unterrichts entstammt der modernen Perspektive, die sich als positiver Gegenentwurf – siehe Schulvergleich in der Eingangsaufgabe – hinter der Szene miteinbringt, ja den Blick auf die römische Schule erst in sinnvoller Weise ermöglichen soll.

Schauen wir uns das genauer an: Antike Schule ist, wie wir dem Ausschnitt und auch dem Rest des Textes entnehmen, vor allem Befehl, Verbot , Unterdrückung, Anstrengung; Lernen ist für den jungen Römer Lucius eine lästige, fast unerträgliche Pflicht: ein negotium. Daher sehnt Lucius sich, ganz römertypisch, nach otium: Lucius möchte frei haben und spielen – ludere delectat. Lucius hat also das nicht, was heutige Schüler haben (können): Freude am Lernen. In diesem Kontrast zwischen antikem und modernem Unterricht besteht, wie erwähnt, die bewusst mitinszenierte methodologisch-didaktische Pointe der Lektion: Aus der heutigen spielerischen und lernfreudigen Unterrichtsituation heraus erkennen wir, dass die römische Schule nicht spielerisch ist und keine Lernfreude hervorruft.

Das ist gewiss keine bahnbrechende Erkenntnis; aber man könnte, ja müsste aus ihr semantischen Nutzen für ein angemessenes Verständnis von negotium und otium, von ludus und schola ziehen: Der Verweis auf die heutige spielerische Schule liefert sowohl die notwendige Erklärung für die rätselhafte Doppelbedeutung von ludus als „Spiel“ und zugleich „Schule“ sowie ein angemessenes Verständnis von otium – griechisch scholé, daraus schola und „Schule“ – als geistvoll-spielerischem Zeitvertreib freier (liberi!) Kinder. Der bewusst kontrastiv angelegte Schulvergleich führt also geradewegs zur Erhellung des terminologischen Vexierbildes von ludus, otium und schola und könnte so der heutigen Freizeitgesellschaft – zumindest dort, wo sie geistlos oder konsumorientiert ist – den kritischen Spiegel vorhalten. Der Bedeutungsgehalt des otium ermöglicht in idealer Weise eine begriffliche Verbindung zur Antike und eine rationale Distanz zum Heute, kurz: Man kann hier etwas lernen.

Die performativ ausgerichtete Kompetenzdidaktik will aber nicht zum Lernen, sondern zum Fühlen animieren. Sie will keinen rationalen Umgang mit der Antike, sie will keinen Abstand, keinen Kontrast, keinen entlarvenden Spiegel; sie hat es vielmehr konsequent auf niedrigschwellig-intuitive Identifikation durch den Performanz-Akt abgesehen: Die Schüler sollen sich eigenständig und aktiv in Lucius hineinversetzen können und auf diese Weise seinen Wunsch nach otium verstehen. Leider müssen sie Lucius dann aber falsch verstehen.[9] Denn im Performanz-Akt kontextuell-intuitiver Leichtigkeit vereinfacht sich Lucius‘ Wunsch nach otium zum Wunsch nach desidia, inertia, voluptas: Das Gegenteil von mühevoller Arbeitszeit ist nun einmal vergnügliche Freizeit.

Der bildungsabperlende Effekt der Performanzdidaktik zeigt sich hier erneut als ein systemischer. Er beruht auf dem Missverständnis, dass echtes Kulturverständnis am dünnen Faden emotional-subjektiver Identifikation aus der Antike herausgesponnen und mit der Gegenwart verknüpften werden müsse. Hätten die Verfasser diesmal nur etwas tiefer in den Spiegel ihrer eigenen Antiken-Inszenierung geschaut, dann hätten sie dort immerhin das spielerische Lernen als semantisch-kontrastiven Erklärungsschüssel entdecken können. Doch ist diese Sicht der Kompetenzdidaktik grundsätzlich versperrt: Sie muss das Spielerische mit dem spielend Leichten verwechseln, weil sie eben nur spielen will. Das Spiel als geistig-beweglicher[10] Umgang mit den Dingen der Welt wird durch banales, eindimensionales Nachfühlen ersetzt. Das befreit zwar den Weg zum otium von allen Verständnishindernissen; aber dieser Weg führt nicht in die Antike, und es wird auch nichts verstanden. Die Römer waren anders, aber eigentlich waren sie genau wie wir: Otium ist die römische Art zu chillen. Besseres und Tiefgründigeres kann und will das ‚Erlebnis Antike‘ gar nicht vermitteln.

Wer das Prinzip der Kompetenzdidaktik – Subjektivierung, Identifikation, Selbstbespiegelung – in anderen Lehrwerken weiterverfolgt und dabei immer wieder auf den erlebnisorientiert-spielerischen Performanz-Akt als Ursache für die Manipulation der Inhalte und der daraus resultierenden systematisierten Unbildung stößt, muss fragen, wie sich die Kompetenzdidaktik überhaupt etablieren konnte und warum sie immer noch als dringend benötigter Paradigmenwechsel auftreten darf. Jede Exzentrik kompetenzdidaktischer Innovationskreativität scheint akzepta­bel, wenn ihre Ergebnisse nur emotionalisierend aufbereitet und in performativen Einheiten präsentiert werden. Das Lehrbuch „Viva“ (Vandenhoeck&Ruprecht) vermittelt die Welt der Römer konsequent in der Ästhetik eines Poesiealbums. Was als spielerische Didaktik gemeint war, wird hier zur dümmlichen Infantilisierung. Die in „Viva“ thematisierte Sklavenproblematik darf als Musterbeispiel für das Absurditätspotential kompetenzdidaktischer Kulturvermittlung gelten.[11] Ein vergleichender Blick dagegen in die ganz alten Lehrwerke mit ihrer Nüchternheit, ihrer klaren Methodik, ihrem exzellenten Bildmaterial, ihren unverrückbaren Ansprüchen genügt, um zu erahnen, in welchen Dimensionen sich der Bildungsverlust der letzten Jahrzehnte vollzogen hat. Eine Didaktik, die Inhalte nicht respektiert, respektiert am Ende auch diejenigen nicht, die sich an diesen Inhalten bilden sollen.

Verstehen vor dem Übersetzen: Das Verschwinden des Text-Geistes

 

Faust. Der du die weite Welt umschweifst,

Geschäftiger Geist, wie nah fühl ich mich dir!

Geist. Du gleichst dem Geist, den du begreifst,

Nicht mir! (Verschwindet.)[12]

 

Das Subjektivierungsprinzip hat sich auch in der Übersetzungsmethodik durchgesetzt. Dort trägt es den Namen der „Vorerschließung“. Schon diese in sich widersprüchliche Bezeichnung muss Verdacht erregen: Besagt sie doch nichts anderes, als dass Texte erschlossen werden, bevor sie erschlossen werden. Es ist offensichtlich, dass sich dahinter der hermeneutische Lehrsatz verbirgt, dass nur, wer bereits verstanden habe, auch verstehen könne. Eine solche Auslegung des hermeneutischen Zirkels wäre ebenso verkehrt, wie es die Konzeption der Vorerschließungsmethode selbst ist. Hans-Georg Gadamer trennt mit vollem Recht den Akt des Übersetzens vom Akt des Verstehens[13]: Übersetzung ist lediglich Vorstufe des Verstehens, sie kann noch kein Verstehen des verbum interius, des ‚inneren Wortes‘ sein, um das es der Hermeneutik geht[14]. Zwischen dem (mit großer Vorsicht zu genießenden) intuitiv-vorläufigen ‚Erfassen‘ eines erst noch zu übersetzenden Textes und seiner streng sprach- und grammatikgeleiteten Entschlüsselung mag eine bisweilen schmale Grenze verlaufen. Die aber ist trennscharf und grundsätzlich.[15] Nur im falschen Konzept der Vorerschließung fallen Verstehen und Übersetzen in eins. Das führt am Ende dazu, dass sich die Inhalte lateinischer Originaltexte den subjektiven Erwartungshaltun­gen ihrer jungen Übersetzer zu fügen haben, nicht umgekehrt. Unvorhergese­he­nes, Überraschendes, den eigenen Horizont Überschreitendes darf in den Texten nicht vorkommen. Die aktuellen Schulausgaben für die Lektürephase, in denen mittlerweile kaum mehr ein Wort ohne helfende Angaben bleibt, bilden diese Situation eindrucksvoll ab.

Das alles sind unhaltbare Zustände. Klagen darüber werden Kritikern üblicherweise als rückwärtsgewandter Kulturpessimismus oder – bisweilen auch als Ungehorsam interpretierte – launische Ablehnung einer angeblich gelungenen Bildungsdemokratisierung ausgelegt, zumeist gerade von denen, die, selbst noch nach konservativen Methoden erfolgreich ausgebildet, das für richtig halten, woran sie als Lehrende oder Lernende in der Praxis nie haben scheitern müssen. Dabei ist der enorme Wissens- und Bildungsverlust an den Schulen nicht zu leugnen; er setzt sich fort an den Universitäten: Dazu muss man nur die Lehramtsanwärter auf ihr Wissen und ihren Bildungshori­zont hin befragen oder sich die Ansprüche (nicht nur altsprachlicher) Fortbildungen anschauen, die immer häufiger das Niveau von Anfängerkursen haben.

Das Lateinische wird dank seiner Rigorosität und seines Anspruches auch diese historische Phase seiner bildungsökonomischen Vereinnahmung durch die Kompetenzdidaktik überstehen. Altsprachliche Anspruchshaltung lässt sich auf Dauer nicht durch eine nicht zu Ende gedachte Modepädagogik unterlaufen. Einigen Schüler- und Lehrergenerationen unserer Zeit wird aber wohl das eigentliche Bildungspotential humanistischer Humaniora vorenthalten bleiben – eine Tatsache, die man der Unbelehrbarkeit eines Bildungswesens anlasten muss, dessen Verantwortliche gerne Faktizität mit Geltung verwechseln. Hoffen wir, dass unsere Gesellschaft diese Unbelehrbarkeit nicht allzu teuer wird bezahlen müssen.

Was hätte wohl Thomas Mann zu der Verknüpfung von „Humaniora und Humanismus“ als Subjektivierung, Selbstbespiegelung, Banalisierung, Infantilisierung gesagt? Gibt es bei uns denn keine Anzeichen einer „illiteraten, in Technik [..] stumpfsinnig aufgehenden Welt“? Gibt es keine Anzeichen von „Sprachverlumpung“ oder „moralischer Verrohung“? Seien wir etwas zurückhaltender: Beschreiben wir die kompetenzdidaktische ‚Humanisierung‘ der Humaniora als das Ausschütten des Kindes mit dem Bade. Mit anschließendem Hinterherwerfen des Waschzubers.

Der Beitrag als PDF: Werner Fenger – Jammer der Selbstbespiegelung

Bartoszek, Verena/Datené, Verena et al., Viva 1. Lehrgang für Latein ab Klasse 5 oder 6, Göttingen 2012.

Behrens, Jürgen/Bothe, Marie-Luise et al., Pontes Gesamtband, Stuttgart/Leipzig 2020.

Bernert, Ernst, Otium, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 1949/1950, Bd. 4 Nr. 1.

Auf: https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/wja/article/view/20628.

Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke Band 1, Hermeneutik 1, Tübingen 2010.

Goethe, Johann Wolfgang, Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 2000.

Grondin, Jean, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 2001.

Jendreiek, Helmut, Thomas Mann. Der demokratische Roman, Düsseldorf 1977.

Killy, Walther, Bildungsfragen, München 1971.

Konrad, Franz Michael, Geschichte der Schule, München 2007.

Lefèvre, Eckard, Otium Catullianum (c. 51) und Otium Horatianum (c. 2,16), Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Auf: https://freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:4774/datastreams/FILE1/content.

Mann, Thomas, Humaniora und Humanismus, Vortrag, gehalten am 9. Juli 1936 in Budapest. Aus: Ders., Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten, Stockholmer Gesamtausgabe der Werke Thomas Manns, Frankfurt/Main 19612, S. 345-354.

 

[1] Goethe, Faust, 570-581.

[2] Mann (Thomas), S. 353.

[3] Konrad, S. 92 ff.

[4] Pontes, S. 94.

[5] https://deref-gmx.net/mail/client/2i6iJHjCgCo/dereferrer/?redirectUrl=https%3A%2F%2Fbridge.klett.de%2FDUA-GSJ7AETX14%2Fcontent%2Fmedia%2Flb%2Fapp.html%3Fpage%3D101. Zuletzt abgerufen am 3. April 2024.

[6] Zwei Zeichensetzungsfehler in einem kleinen Absatz auf den Internetseiten eines angesehenen Schulbuch-Verlags: Sichtbare Folgen umgreifenden Bildungsverlustes.

[7] Ein syrisches Flüchtlingsmädchen erzählt im Lateinunterricht anlässlich der Aeneas-Lektion die eigene Fluchtgeschichte: Nach der Ermordung mehrerer Verwandter in Syrien flieht es mit der Familie in die Türkei, setzt von dort mit einem Boot nach Griechenland über. In Sichtweite der griechischen Küste kentert das Boot. Die Vierjährige überlebt, muss zuvor aber ihre ganze Habe über Bord werfen. Ist diese Flucht mit der des Aeneas „durchaus vergleichbar“? Und welche Erkenntnis, welcher Trost ließe sich daraus gewinnen?

[8] Pontes, S. 36 ff.

[9] Zum Begriff des otium in römischer Idealvorstellung vgl. z.B. Lefèvre oder Bernert.

[10] Vgl. hierzu die glänzende Analyse von „Spiel“ bei Gadamer, S. 107-116.

[11] Viva 1. Unter: https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com//6980/viva-1. Vgl. die dritte Lektion mit dem Titel „Augen auf beim Sklavenkauf“ unter dem Reiter „Leseprobe“, dort S. 20/21 des Lehrbuchs.

[12] Goethe, Faust, 510ff.

[13]Eine fremde Sprache verstehen bedeutet ja, sie nicht in die eigene Sprache übersetzen müssen. Wo einer eine Sprache wirklich beherrscht, bedarf es keiner Übersetzung mehr, ja erscheint jede Übersetzung unmöglich. […] Eine Sprache versteht man, indem man in ihr lebt – ein Satz, der bekanntlich nicht nur für lebende, sondern sogar für tote Sprachen gilt.“ Gadamer, S. 388.

[14] Zum „verbum interius“ vgl. Grondin, S. 8.

[15] Dass Vorerschließung gelenkt sein müsse, ist kein Gegenargument: Ist die Lenkung inhaltlich, kommt es zum Raten. Ist sie sprachlich-grammatikalisch (und sei sie auch transphrastisch), handelt es sich bereits um einen Übersetzungsvorgang.