Veröffentlicht am 13.02.23

Der Elfenbeinturm hisst die weiße Fahne

Mangelverwaltung statt wissenschaftliche Expertise

Im Frühjahr 2021 hat die Kultusministerkonferenz eine „Ständige Wissenschaftliche Kommission“ berufen, die die Kultusministerien in allen Fragen beraten soll: von der frühkindlichen Bildung bis zur beruflichen Weiterbildung. Berufen wurden ausschließlich Vertreterinnen und Vertreter der empirischen Bildungsforschung, eine Einseitigkeit, die dem Anspruch des Wissenschaftlichen kaum gerecht wird. Daher verwundert es nicht, dass Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Disziplinen in einem gemeinsamen „Positionspapier zur Weiterentwicklung der KMK-Strategie ‹Bildung in der digitalen Welt›“ ein Gutachten der Kommission zur Digitalisierung kritisierten:

„Die tatsächliche Vielfalt an Forschungsbefunden zur Digitalisierung in Bildung bleibt entsprechend systematisch unberücksichtigt. Dazu zählen, um nur einige Beispiele zu nennen, Beiträge aus der Medienpädagogik, der Bildungsinformatik, der kulturellen und politischen Bildung, der Medienethik, der Kindergesundheitsforschung, der Techniksoziologie oder der Datafizierungsforschung, die insgesamt ebenso zum Feld der für Politik relevanten Bildungsforschungsbereiche gezählt werden müssen.“ (1)

Zu welchen Fehlentscheidungen eine reduzierte statt multiperspektivische Sicht auf Bildungseinrichtungen und die Beteiligten führt, hat man zuletzt in voller Schärfe bei der Corona-Pandemie gesehen. Für die Entscheidungsgrundlagen kamen überwiegend Experten der Virologie und Epidemiologie zu Wort, was nicht nur zu massiven Lerndefiziten und psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen führte. Im Nachhinein erwiesen sich auch die empfohlenen Schulschließungen als falsch und unbegründet, vor der nicht nur Pädagogen gewarnt hatten. Die Vielfalt der wissenschaftlich begründeten Perspektiven auf das Schulsystem fehlt auch in der Stellungnahme „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“. Sie hat nicht nur zu teils wütenden – gleichwohl berechtigten – Protesten der Lehrerverbände geführt, sondern rein verwaltungstechnische Empfehlungen formuliert.

Das schulpolitische Versagen der Kultusministerien unter dem Einfluss der Think Tanks diverser Stiftungen in den letzten20 bis 30 Jahren kann man der Kommission nicht anlasten. Aber für die die vorgeschlagenen Verwaltungsakte braucht es keinerlei wissenschaftliche Expertise. Es gibt zu wenig Lehrkräfte an Schulen? Hier die Vorschläge der Kommission:

  • Erschließung von Beschäftigungsreserven bei qualifizierten Lehrkräften, dazu gehört die Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung in Anlehnung an das Konzept der Vorgriffsstunden. Angesichts eines prognostizierten Lehrermangels für die nächsten 20 Jahre (!) wirft das die Frage auf, wann die vorgegriffenen Überstunden ausgeglichen werden sollen.
  • Verzicht auf die Reduktion der Unterrichtsverpflichtung aus Altersgründen, und Reduktion der Möglichkeiten zu Teilzeitbeschäftigungen (unabhängig davon, ob verkürzte Arbeitszeit dazu dienen, eigene Kinder oder Angehörige zu betreuen oder beruflichen Belastung geschuldet sind).
  • Abordnung von Lehrkräften an Dienststellen mit besonderem Bedarf. Das fordert von den Lehrkräften nicht nur längere Fahrtzeiten und ggf. Umzüge und soziale Neuorientierung. Zudem unterläuft es das pädagogische Grundprinzip von Beziehung und Vertrauen als Basis von Unterricht in einer Klassen- als Sozialgemeinschaft.
  • Hybridunterricht, bei dem ein Teil der Schülerinnen und Schüler vor Ort ist, während andere Schülerinnen und Schüler, auch aus anderen Schulen, per Video zugeschaltet werden. Dabei hat der durch Corona erzwungen Fernunterricht doch gerade in der Praxis gezeigt, dass diese Form des Unterrichts die schlechteste Variante überhaupt ist. (Sinnvoller sind Präsenzunterricht in kleiner Gruppe im Wechsel oder Online-Sitzungen für alle.)
  • Die Entlastung und Unterstützung qualifizierter Lehrkräfte durch Studierende für das Lehramt. Der Vorschlag ist an sich richtig. Sie sollte aber zu Ende gedacht werden zu einem Dualen Studium mit Unterrichtsbesuchen vom ersten Semester an (Hospitation) und zunehmend eigenverantwortlichen Unterrichtseinheiten (Assistenz und eigene Kleingruppen), damit man in Schulen auf formal nicht (vollständig) qualifizierte Personen und vor allem Quereinsteiger verzichten kann, die in Berufsschulen möglicherweise eine Hilfe sind, in Grundschulen aber ein bereits erkanntes Problem.
  • Erhöhung der Selbstlernzeiten von Schülerinnen und Schüler. Der Vorschlag ignoriert belegte Fakten. Danach sind nur wenige, vor allem ältere Schülerinnen und Schüler dazu überhaupt in der Lage, und für den Lernerfolg kommt es entscheidend darauf an, ob sie zu Haue von einem Elternteil betreut werden können oder nicht. Diese Form von Nicht-Unterricht ist vor allem die effektivste Verstärkung der sozialen Spaltung zu Lasten der Kinder und Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern und/oder mit Migrationshintergrund.
  • Weiterqualifizierung von Gymnasiallehrkräften für andere Schulformen sowie Nachqualifizierung in Mangelfächern. Das schränkt die an sich freie Berufs- und Fächerwahl spätestens dann ein, wenn die (Weiter-)Beschäftigung an den Fachwechsel gebunden wird.
  • Anpassung der Klassenfrequenzen. D.h. Erhöhung der Klassenstärke, wohl wissend, dass große Klassen anstrengender zu unterrichten sind, Gruppenarbeiten mit vielen Gruppen schwieriger zu betreuen und der Unterricht daher notwendig stärker lehrerzentriert und frontal ausgerichtet sein muss (wie bei Hochschul-Vorlesungen mit hohen Teilnehmerzahlen).
  • Und zu guter Letzt Maßnahmen zur Gesundheitsförderung per Internet: Achtsamkeitstraining und eMental-Health-Angebote.

Ist das noch eine Empfehlung oder bereits Zynismus? Über die Erleichterung über im Ausland erworbene Abschlüsse für das Lehramt kann man streiten, die Entlastung der Lehrkräfte von Organisations- und Verwaltungsaufgaben ist unbedingt zu begrüßen. Allerdings sind gerade diese Aufgaben der empirischen Bildungsforschung, der „datengestützten Schulentwicklung“ und ihrem ständigen Datenhunger geschuldet. (2)

Im Wesentlichen laufen die Vorschläge der Kommission darauf hinaus, dass die heute aktiven Lehrerinnen und Lehrer mehr und länger arbeiten, (noch) größere Klassen betreuen, auf Teilzeit und Stundenreduktion im Alter verzichten und zur Manövriermasse werden, die bei Bedarf abgeordnet werden kann. Dafür gibt es bei Überlastung dann ein Online-Achtsamkeitstraining und Supervisionsangebote. Ob man so den Lehrberuf für die nachfolgende Generation attraktiv macht, darf bezweifelt werden.

Als jemand, der selbst fast 40 Jahren in verschiedenen Kontexten von (Hoch)Schule unterrichtet, kann ich mich nur wundern über die einseitige Ausrichtung der Empfehlungen der – akademisch ohne Frage qualifizierten – Kommissionsmitglieder. Neben der fehlenden Unterrichtspraxis der Mitglieder fällt vor allem die Distanz zur Schulpraxis und der heutigen Probleme auf. Seien es die fehlende personelle und sachliche Ausstattung, marode Bauten und Renovierungsstau oder die zunehmende soziale Spaltung durch Armut, Bildungsferne und Medienmissbrauch, (ja, der sozialen Medien), soziales Fehlverhalten u.v.m.

Dazu kommt Hybris. Die Vorsitzende Felicitas Thiel kann sich nicht vorstellen, dass „Minister die Vorschläge der Kommission einfach ignorieren könnten“. Der Vorsitzende Olaf Köller beharrt darauf, dass die Kommission den Ministern die Themen vorgeben können müsse. Die Ministerien würden „daran gemessen werden, wie frei sie die Kommission arbeiten lassen und was sie aus den Empfehlungen machen. Die erste Stellungnahme, die von den Ministern zerrissen werde, sei das Ende der Idee“, so Köller (zit. nach Schmoll, 2021) (3). Widerspruch von Seiten der Ministerien ist ebenso wenig vorgesehen wie Kritik von anderen Fachdisziplinen, Verbänden oder Interessenverbänden derjenigen, die in Kitas, Schulen oder Weiterbildungseinrichtungen arbeiten?

Eine sachliche Bestandsaufnahme der Arbeit der Kommission und der publizierten Papiere lässt zumindest mich zu einem anderen Schluss kommen: Die einzig Empfehlung, die man zu dieser Kommission geben kann, ist, sie in der aktuellen Form aufzulösen und stattdessen Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Professionen (Pädagogen und Medienpädagogen, Sozialarbeiter, Kinder- und Jugendpsychologen, Pädiater, Soziologen, Informatiker u.a.) zu berufen. Und die Kommissionsmitglieder sollten durchaus die Praxis kennen. Die Diskussion in einer multiperspektivisch besetzten Kommission werden sicher anstrengender, aber nur interdisziplinär besetzt kann so eine Kommission in Anspruch nehmen, wissenschaftlich vielfältig zu argumentieren und vor allem ergebnisoffen zu arbeiten. Nur dann kann sie praxisrelevante und praxistaugliche Empfehlungen aussprechen.

Fussnoten

  • Braun, Tom, Andreas Büsch, Valentin Dander, Sabine Eder, Annina Förschler, Max Fuchs, Harald Gapski, Martin Geisler, Sigrid Hartong, Theo Hug, Hans-Dieter Kübler, Heinz Moser, Horst Niesyto, Horst Pohlmann, Christoph Richter, Klaus Rummler, und Gerda Sieben. 2021. «Positionspapier zur Weiterentwicklung der KMK-Strategie ‹Bildung in der digitalen Welt›». MedienPädagogik, (Statements and Frameworks), 1–7. https://doi.org /10.21240/mpaed/00/2021.11.29.X
  • Hartong, Sigrid (2018): „Wir brauchen Daten, noch mehr Daten, bessere Daten!“ Kritische Überlegungen zur Expansionsdynamik des Bildungsmonitorings; in Pädagogische Korrespondenz, Heft 58, S. 15 – 30
  • Schmoll, Heike (2021) Unbequem sollen sie sein. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission soll sich der großen ungelösten Fragen im gesamten Bildungssystem annehmen – obwohl Widerstand der Kultusminister droht. Von Heike Schmoll, FAZ vom 27.05.2021, S. 6

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