Veröffentlicht am 20.10.17

Das Abitur steht auf dem Prüfstand

Nachdem das Abitur-Desaster in Karlsruhe angekommen ist, wäre nun endlich eine neue Justierung fällig.

Ein Gastbeitrag von Josef Kraus, erschienen in: DIE TAGESPOST (Würzburg, 11. Oktober 2017)

Das mit Spannung zu erwartende Urteil wird wohl erst in einigen Monaten vorliegen, aber immerhin nahmen die Richter des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) am 4. Oktober 2017 erstmals das Abitur unter die Lupe. Anlass waren Klagen zweier abgelehnter Studienplatzbewerber aus Hamburg und Schleswig-Holstein. Beide wollten Medizin studieren, bekamen wegen ihrer Abiturnote jedoch keinen Studienplatz. Zum Zug kamen nämlich nur Bewerber mit Abiturnoten von 1,0 bis 1,2. Auch die Warteliste verspricht kaum mehr Chancen. Bis zu 15 Semestern muss man warten. Damit würde das Warten auf einen Studienplatz länger dauern als das Studium selbst.

In den Augen des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen ist dieses System verfassungswidrig. Es überwies 2012 deshalb den Fall zur Prüfung nach Karlsruhe. „Schon die Vergleichbarkeit zwischen den Ländern ist nicht gegeben“, urteilte das Verwaltungsgericht damals und wies darauf hin, dass Thüringen (mit Notenschnitten bei 2,12 bis 2,16) regelmäßig signifikant bessere Abiturnoten erziele als etwa Niedersachsen (mit Schnitten bei 2,52 bis 2,58).

Gleich zu Beginn der Anhörung stellte der Vorsitzende des Ersten BVerfG-Senats, Ferdinand Kirchhof, die Grundsatzfragen: Ist die Abiturnote in einem föderalen Schulsystem überhaupt aussagekräftig? Reicht sie aus, um danach Studienplätze zu vergeben oder zu versagen und so den weiteren Lebensweg grundlegend zu beeinflussen? Nun also muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob das Numerus-Clausus-Vergabesystem mit dem grundgesetzlich garantierten Recht auf freie Wahl des Berufs und des Ausbildungsplatzes sowie dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar ist.

Zweifel sind mehr als angebracht. Denn es ist schier pervers, wenn eine Note 1,0 nicht für einen Studienplatz reicht, sondern man als Bewerber an bestimmten Universitäten – extrapoliert errechnet – eine Note von 0,84 oder 0,78 braucht. Ganz zu schweigen davon, dass ein 1,0-Abiturient noch lange nicht der bessere Arzt wird als ein 2,0-Bewerber.

Hier liegt freilich ein Problem vor, das nur auf den ersten Blick ein rein juristisches ist. Gewiss geht es um Gleichbehandlung eines jeden, der in diesem Wintersemester gut 43 000 Bewerber um einen der gut 9 000 Medizinstudienplätze. Es ist zudem ein Problem, wenn Zehntausende Bewerber leer ausgehen, zugleich aber deutsche Kliniken Zehntausende Ärzte aus dem Ausland anwerben müssen.

Abseits dieser juristischen und personalpolitischen Probleme ist die Sache ein gigantisches politisches Problem. Übrigens nicht nur im Bereich Medizin, sondern auch in der Psychologie. Denn die Kultusminister der deutschen Länder haben die Aussagekraft des Abiturs – obendrein von Bundesland zu Bundesland in unterschiedlich heftigem Maße – verkommen lassen.

Ein früherer Mathematiklehrer aus Halle, Günter Germann, hatte 2013 die ganze Abiturabsurdität markiert. Er hat den fiktiven Schüler Paul mit identischen Schulleistungen rein rechnerisch durch einige deutsche Länder gereicht und errechnet, dass Paul in einigen Ländern ein Abitur von 1,7 erreichen würde, anderswo 2,3 und in Sachsen-Anhalt – nach damaligen Regeln – nicht einmal zur Prüfung zugelassen worden wäre. Übrigens hatte das zur Folge, dass Sachsen-Anhalt seine Abiturbestimmungen erheblich gelockert hat: Mathematik war ab 2017 nicht mehr schriftliches Pflichtprüfungsfach. Außerdem können Schüler dort jetzt bis zu acht schlechte Zeugnisnoten streichen und so aus der Abi-Note heraushalten.

Die Kultusministerkonferenz (KMK) wusste all dies sei langem. Sie hat sich auch mit keinem anderen Thema so intensiv befasst wie mit dem Abitur. Aber es ist nichts Vernünftiges herausgekommen. Statt den von Land zu Land wuchernden Abiturwildwuchs mit anspruchsvollen Regelungen auszujäten, folgte eine liberale Regelung auf die andere. Die KMK breitete über dieses Laissez-faire mit immer neuen Beschlüssen den Mantel des Schweigens. Für Oberstufenleistungen, die in einem süddeutschen Bundesland die Note 4 erzielten, gab es in Hamburg oder in NRW die Note 2. Außerdem tendierten die durchschnittlichen Abiturnoten ganzer deutscher Länder, einzelner Schulen ohnehin, bald in Richtung 2,2 oder gar 2,0. Aus Nordrhein-Westfalen wird berichtet, dass sich die Zahl der Abiturienten mit der Note 1,0 von 370 im Jahr 2002 über 308 im Jahr 2003 und 455 im Jahr 2007 auf exakt 1 000 im Jahr 2011 mehr als verdreifacht oder verdoppelt hat. In Berlin hat sich die Zahl der 1,0-Abiturzeugnisse von 17 im Jahr 2002 auf 234 im Jahr 2012 erhöht (das ist das Vierzehnfache). Außerdem gibt es mittlerweile für ganze Bundesländer Abiturdurchschnittsnoten von 2,16 (zum Beispiel Thüringen).

Da sahen sich die Kultusminister doch wenigstens zu etwas Schaufensterpolitik gedrängt. Ein sogenannter Aufgabenpool für das Abitur sollte her: Ausgehend von den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife hat die KMK beschlossen, ab dem Schuljahr 2016/17 (also für das Abitur 2017) für die Fächer Deutsch und Mathematik sowie Englisch und Französisch jeweils einen Abituraufgabenpool, und den als Angebot, für den Einsatz in der Abiturprüfung zur Verfügung zu stellen. Ob mehr Vergleichbarkeit auf diesem Wege erreicht werden kann, ist mehr als fraglich. Denn: Die Standards sind nicht vergleichbar. Das belegen die Regelungen für die Oberstufenschüler: In manchen Ländern zählen Leistungskurse doppelt für die Abiturnote, in anderen nicht. Manchmal müssen die Schüler nahezu alle Fächer in die Endwertung einbringen, mal können sie auswählen. Mal haben sie am Ende vier Fächer in der Abiturprüfung, mal fünf.

Aufgabenpool – das ist sehr wenig, was der KMK da eingefallen ist, weil dieser Pool nur bei ganz kleinen Teilen der reinen Abiturprüfung ansetzt. Zu oft wird vergessen, dass zwei Drittel der Abiturnote aus den Leistungen der letzten beiden Schuljahre bestehen und die eigentliche Abschlussprüfung nur ein Drittel der Wertung ausmacht. Was es an Wildwuchs während der Oberstufe gibt, wäre im Detail aufzudecken. Aufzudecken wären ferner die Regeln der 16 Länder für die Abiturfächer, die mündlich abgeprüft werden. Auch hier werden Ansprüche großzügig untertunnelt. In Bayern beispielsweise muss sich ein Prüfling bei einem mündlichen Prüfungsfach Fragen aus drei von vier Semestern gefallen lassen. Zu Beginn der 30 Minuten umfassenden Prüfungszeit darf er ein Eingangsreferat ausgestalten, dessen Thema er 30 Minuten vor der Prüfung eröffnet bekommt. In Hamburg bezieht sich die mündliche Prüfung auf nur zwei Semester von vieren, der einleitende Schülervortrag dauert 15 Minuten, soweit es sich um eine sogenannte Präsentationsprüfung handelt. Und: Das Präsentationsthema bekommt der Kandidat zwei Wochen vor dem Prüfungstermin mitgeteilt.

Vor allem aber: Die vom Prüfling – unwissentlich und zufällig – gewählte Pool-Aufgabe schlägt sich in der Abiturwertung kaum nieder. Nehmen wir ein fiktives Beispiel aus einem Bundesland mit fünf Abiturprüfungsfächern, darunter drei, die schriftlich, und zwei, die mündlich abzulegen sind. Welchen Notenanteil macht eine Abitur-Pool-Aufgabe eines Abiturienten in seinem Abiturzeugnis aus? Nun, die Abiturprüfung selbst macht nur ein Drittel der Abiturgesamtleistung aus. Ein Fach von fünfen macht ein Fünftel der Abschlussprüfung aus. Mathematisch ausgedrückt: Eine bestimmte Pool-Aufgabe schlägt sich mit einem Fünftel von einem Drittel (das ist ein Fünfzehntel) in der Abiturnote nieder. Nun ist es im Abiturfach Deutsch ja in der Regel so, dass fünf verschiedene Themen zur Auswahl durch den Prüfling gestellt werden. Erwischt der Prüfling also nicht die Poolaufgabe unter den fünf Aufgaben, dann schlägt die Poolaufgabe mit null Prozent zu Buche. Und das soll mehr Vergleichbarkeit sein?

Da kommt bei allem Föderalismus dann doch der Bund oder das Bundesverfassungsgericht ins Spiel. Und zwar im Zusammenhang mit dem Hochschulrahmengesetz (HRG). Dort heißt es in Paragraph 27, dass zum Studium berechtigt sei, wer „die für das Studium erforderliche Qualifikation nachweist“; dieser Nachweis erfolge „grundsätzlich durch den erfolgreichen Abschluss einer auf das Studium vorbereitenden Schulbildung“. Das ist eine dünne Vorgabe. Früher war im HRG wenigstens davon die Rede, dass die Nachweise bundesweit vergleichbar sein müssten. Das sind sie – siehe oben – längst nicht mehr, wenn man die unterschiedlichen Quoten der Länder an Abiturienten und die auseinanderdriftenden Abiturnoten anschaut. In der Folge ist aus dem Ziel der abiturvorbereitenden Schulbildung, Studierfähigkeit zu vermitteln, die bloße Aushändigung einer Studierberechtigung geworden. Hier muss qua HRG eine Regelung gefunden werden, die die 16 deutschen Länder als heißen Atem im Nacken spüren.

Aber es gibt noch eine andere, nicht eine legislative oder judikative, sondern eine politische Lösung: Vielleicht rafft sich doch einmal der eine oder andere Kultusminister eines Bundeslandes auf, die Wischi-Waschi-Regeln für die bundesweite, gegenseitige Anerkennung von Zeugnissen aufzukündigen und – vielleicht mit einer gebotenen Zweijahresfrist – anzukündigen, dass bestimmte Abiturzeugnisse aus bestimmten Ländern in seinem Land nicht mehr anerkannt werden. Dann käme endlich Bewegung in den Laden. Und der Föderalismus würde wieder das, was er eigentlich sein sollte: ein kompetitiver Föderalismus, ein Wettbewerbsföderalismus.

 

Der Beitrag als PDF: Tagespost – Kraus – Abitur – BVerG (2)