Veröffentlicht am 04.12.15

Bürgerrecht auf Bildung (Ralf Dahrendorf, 1965)

Vor 50 Jahren, am 12. November 1965, forderte Ralf Dahrendorf in der ZEIT eine aktive Bildungspolitik und das „Bürgerrecht auf Bildung“. Es war eine Re-Aktion auf das alarmistische Buch von Georg Picht, der bereits damals von einer „Bildungskatastrophe“ und einem „Bildungsnotstand“ sprach. Die Parallelen zum heutigen Palaver über den behaupteten Bildungsnotstand der Bundesrepublik samt „PISA-Schock“ drängen sich geradezu auf. Damals wie heute wird unzulässig mit empirischen Daten argumentiert, wenn zum Beispiel die absolute Zahl von Abiturienten oder Studierenden eines Jahrgangs als Kennzahl benutzt wird, ohne die für Deutschland charakteristische duale Bildung zu berücksichtigen. Aber Absicht wie Ziele solcher Aktionen und Publikationen sind bekannt: Nationale Bildungssystemen sollen an den von Wirtschaftsverbänden wie der OECD vorgegebenen Kennzahlen ausgerichtet werden.

Daher sollte man den Text von Dahrendorf und seine drei Forderungen in die aktuelle Bildungsdiskussion integrieren, weil er schon 1965 ganz klar die Bedeutung von Bildungerechtigkeit und die Durchlässigkeit der Bildungssysteme als Basis stabiler, demokratischer Gesellschaften postuliert hat. Die Forderungen von Dahrendorf im Wortlaut:

„Die Verfassungsartikel, aus denen sich eine aktive Bildungspolitik entwickeln lässt, müssten lauten:

1. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine intensive Grundausbildung, die ihn befähigt, von seinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten wirksamen Gebrauch zu machen.

2. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine seiner Leistungsfähigkeit entsprechende weiterführende Ausbildung.

3. Es ist die Pflicht der staatlichen Instanzen, dafür Sorge zu tragen, dass diese Rechte ausgeübt werden können.“ (zit. n. Hartung 2015)

Der zweite Artikel hat schon 1965 die Bedeutung der dualen Ausbildungsgänge in Deutschland thematisiert, die die OECD erst heute, 2015, als bundesdeutsches Spezifikum zur Kenntnis genommen hat. Nicht jeder kann und muss studieren, aber jeder hat das Recht auf eine seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden Ausbildung. Man wird seine Forderungen heute und im Angesicht allgegenwärtiger, digitaler Geräte und Dienste, um einen vierten Verfassungsartikel ergänzen:

4. Kein Mensch darf, weder für seine Grundausbildung noch für die weiterführenden Ausbildung zur Nutzung digitaler Techniken und/oder von Online-Diensten gezwungen werden.

Denn der Zwang, digitale Geräte und Medien nutzen zu müssen, der heute durch entsprechende Lobby-Arbeit der IT-Wirtschaft etabliert werden soll, ist weder fachlich noch pädagogisch legitimiert , sondern entspricht ausschließlich wirtschaftlichen Interessen. Selbst die OECD-Studie „Students, Computers and Learning“ bestätigt den mangelnden Nutzen von IT im Unterricht. Die Studie habe gezeigt:

„dass Staaten, die in den letzten Jahren verstärkt in die Ausstattung der Schulen investiert haben, in den vergangenen zehn Jahren keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erzielen konnten. Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt offensichtlich nicht per se zu besseren Schülerleistungen.“ (Bos; zit. n. Telekom-Studie 2015, S. 8)

Das korrespondiert u.a. mit den Ergebnissen der Hattie-Studie. Ziel der Wirtschaftsverbände, IT-Lobbyisten und kurioserweise auch der Telekom-Studie ist dennoch und entgegen der Datenlage die möglichst frühe und vollständige Digitalisierung, Kommerzialisierung und Privatisierung der Bildungsangebote und der Bildungseinrichtungen. Es sollen Märkte geschaffen werden, auch wenn Digitaltechnik im Unterricht sachlich und fachlich falsch ist und gegen elementare, demokratische Regeln der Selbstbestimmung verstößt. EU-Präsident Martin Schulz fordert daher aktuell in der ZEIT in seinem Gastbeitrag „Freiheit, Gleichheit, Datenschutz“ explizit, dass der oder die Einzelne selbst entscheiden können muss, ob er oder sie digitale Techniken nutzen möchte:

„In der digitalen Welt muss es ebenso wie in der analogen möglich bleiben, dass nicht jeder alles mitmacht, auch wenn die große Mehrheit das anders handhabt. Selbst wenn viele mit großer Begeisterung all ihre Daten offenlegen, wenn sie sich am ganzen Körper verkabeln und freiwillig ihre Biodaten in einer Cloud speichern – selbst dann darf für niemanden, der sich dem entziehen will, ein Schaden entstehen. Minderheitenschutz gilt analog wie digital!“ (Schulz 2015)

Schulz bezieht sich mit seinem Zitat zwar auf den Digital-Terror des „Quantified Self“ und des „Selftracking“, bei dem jeder Mensch sich mit Smartwatch und Smartphone beständig selbst vermessen soll, um diese Daten an die Krankenkassen zu übertragen. Aber dieser Zwang zu digitalen Geräten und Techniken gilt gleichermaßen für andere, auf digitale Angebote reduzierte Anwendungen, wenn es keine (analogen) Alternativen mehr gibt. Wenn z.B. Schülerinnen und Schüler genötigt werden, mit digitalen Geräten und Onlinediensten arbeiten zu müssen, um am Unterricht teilnehmen zu können, ist das eine inakzeptable Form von Nötigung und steht einer selbstbestimmten Wahl von Lernmedien diametral gegenüber. Daher muss jede Schülerin und jeder Schüler (bzw. bei Kindern unter 16 Jahren die Eltern) entscheiden können, welche Medien zum Lernen benutzt werden. Schulen müssen das digitaltechnikfreie Lernen, zumindest als Alternative zum digitalen, ermöglichen.

Wer digitaleuphorisch stattdessen weiter an die Segnungen des Digitalen im Unterricht und im Privaten glaubt, sollte einen Blick nach Amerika werfen. Eltern, die in der Hightech-Branche des Silicon Valley arbeiten (und es sich leisten können), schicken ihre Kinder vermehrt auf Waldorfschulen. (Grossarth 2014) Dort lernen die Kinder digitalfrei. Diese Schulen verzichten bewusst auf den Einsatz genau der Technologien, mit denen die Eltern ihr Geld verdienen. Das ist kein Plädoyer für die eine kritiklose Übernahme der Waldorfpädagogik, deren Inhalte ebenso kritisch zu reflektieren sind wie Angebote anderer Schulträger. Es ist aber sehr wohl ein Plädoyer für das Nachdenken über Medientechnik im Unterricht, insbesondere von Digitaltechnik, die als besonderes Spezifikum den permanenten Rückkanal ins Netz hat und dadurch die vollständige Kontrolle aller Handlungen jedes Einzelnen ermöglicht. Schülerinnen und Schüler an Digitalgeräte zu zwingen, ist keine pädagogische Aufgabe.

Das liberale Vermächtnis des Bildungsbürgers Dahrendorf

Gegen zwei Dinge würde sich Dahrendorf heute vehement wenden:

1. Die Digitalisierung als Kontrolltechnik, die die bürgerlichen Grundrechte aushöhlt, wie es der EU-Gerichtshof mit seinem „safe harbour“-Beschluss deutlich gemacht hat.

Der EU-Gerichtshof hat explizit formuliert: Es gibt im Web keinen Datenschutz und keine Datensicherheit, die europäischen Normen und/oder dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung entspricht. Wenige amerikanische Monopole kontrollieren stattdessen das westliche Netz und machen mit den Daten, was technisch machbar ist. Jeder Mensch wird dabei unfreiwillig zum Datenlieferanten von sehr persönlichen Daten und wird mit allen seinen Handlungen vermessen. Jeder Mausklick, jedes Wischen auf dem Touchscreen – alles wird minutiös gespeichert und mit Hilfe von Big Data Mining zu persönlichen Profilen zusammengestellt, die als personalisierte Profile selbst zur Ware werden.

Ohne eine dem europäischen Recht genügende juristische Basis ist das Netz derzeit daher ebenso wenig zu nutzen wie ohne eine andere, technische Basis, bei der deutsche und/oder europäische Anbieter darüber bestimmen, wer auf die Netze und die Daten Zugriff hat. Das ist zwar das Schlimmste, was sich Google-CEO Eric Schmitt vorstellen kann und was er als „Balkanisierung des Web“ bezeichnet. Bei einer Dezentralisierung des Web hätte Google nicht mehr uneingeschränkt und unkontrolliert Zugriff auf alle Daten. Aber das dürfte für Europäer zu verschmerzen sein.

2. Der zweite Zusatz zu Dahrendorfs Idee vom Bürgerrecht auf Bildung muss lauten, dass Grundausbildung und weiterführende Ausbildung kostenfrei sein müssen.

Es darf nicht (wieder oder immer noch) von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Elternhauses abhängen, wer welche Ausbildung und/oder welches Studium abschließen kann. Aber obwohl die Einführung von Studiengebühren in Deutschland politisch gescheitert ist, trommeln Stiftungen wie Bertelsmann und Medienpartner wie die ZEIT für deren Wiedereinführung. Angeblich sei es sozial gerecht, wenn Studierende für ihr Studium bezahlen, weil sie später im Beruf ja besser verdienen würden.

Dabei ist klar, dass die Einführung von Studiengebühren lediglich die schon heute existierende soziale Spaltung der Gesellschaft verstärken und zementieren würde. Wer aus einem bildungsaffinen, eher bürgerlichen und wohlhabenden Elternhaus stammt, bekommt das Studium bezahlt, findet dank der beruflichen Kontakte und Netzwerke (meist) des Vaters leichter Praktikumsplätze und erste Anstellungen und kann nach dem Studium unbeschwert ins Berufsleben einsteigen.

Wer hingegen aus einem bildungsfernen und/oder ärmeren Elternhaus kommt, muss sein Studium durch Arbeit neben dem Studium verdienen und/oder bekommt Bafög. Diese Absolventen haben in der Regel kein Netzwerk der Eltern für Praktika und Anstellungen und beginnen ihr Berufsleben mit Schulden. In den USA summieren sich die Kosten für ein übliches Studium schnell auf etwa 100.000 Dollar. Das Arbeitsleben beginnt dementsprechend mit Schulden, Ratenzahlungen und der Angst, durch den Verlust des Arbeitsplatzes die Studienkredite nicht bedienen zu können. Verschuldete Menschen sind nicht mehr frei in ihren Entscheidungen und haben deutlich weniger Handlungsoptionen, etwa beim Verhandeln des Lohns oder beim Wechsel des Arbeitsplatzes. Wer auch für Deutschland wieder Studiengebühren einfordert, sollte daher deutlich sagen, dass er die soziale Spaltung in Deutschland nicht nur verstetigen, sondern sogar verschärfen will, in dem die Option, studieren zu können, für viele mit dem Zwang zur Verschuldung gekoppelt wird. Wer von „Bildung für alle“ spricht, aber die Bildungswilligen aufgrund fehlender Stipendienmodelle in die Verschuldung treibt, argumentiert daher zynisch.

Aufgabe des Staates ist, so Dahrendorf im seiner dritten Forderung, dafür zu sorgen, dass dieses Recht auf Bildung wahrgenommen werden kann und nicht an finanziellen Hürden scheitert oder aus Angst vor Verschuldung nicht wahrgenommen wird. Es ist fast schon müßig zu sagen, dass die Forderung nach Studiengebühren explizit Frauen benachteiligt. Denn Familienplanung und Kinderwunsch dürften durch einen studienbedingten Verschuldung kaum gefördert werden. Aber auch die Gleichberechtigung der Geschlechter ist, wie die Chancengleichheit oder die gleichen Bürgerrechte für alle, eine Forderung im Sinne der Freiburger Thesen eines reformorientierten „Sozialen Liberalismus“ von 1971, die aber schon 1977 von den wirtschaftsliberalen, unionsnahen Kieler Thesen abgelöst wurden. Vielleicht besinnen sich ein paar Liberale auf Vordenker wie Ralf Dahrendorf oder auch Burkhard Hirsch und treten für Bürgerrechte ein, das Bürgerrecht auf Bildung zum Beispiel, statt als Wirtschafts-Lobbyisten das (sozial-)liberale Denken zu pervertieren?

Quellen

  • Grossarth, Jan: Eliten an die Waldorfschule. Strickzeug statt Smartphone, in: FAZ vom 06.08.2014
  • Hartung, Manuel J.: Ralf Dahrendorf : Er hatte recht. Vor 50 Jahren erschien Ralf Dahrendorfs epochale Streitschrift „Bildung ist Bürgerrecht“. Weshalb man sie heute wieder lesen und für eine aktive Bildungspolitik kämpfen muss. In: Die Zeit Nr. 46, vom 12. November 2015, S. 85f; dort auch die Links zum Dahrendorf-Text (6 Dateien sind verlinkt).
  • Picht, Georg (1965): Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Freiburg i. Br. 1964, 2. Aufl., München 1965
  • Schulz, Martin: Grundrechte : Freiheit Gleichheit Datenschutz. Warum wir eine Charta der digitalen Grundrechte brauchen. In: Die ZEIT Nr. 48 vom26.11.2015, S. 6
  • Schulz, Martin: Technologischer Totalitarismus. Warum wir jetzt kämpfen müssen, in: FAZ vom 06.02.2013
  • Telekom-Studie: Schule digital. Der Länderindikator 2015

Der Beitrag als PDF: Dahrendorf: Bürgerrecht auf Bildung