Veröffentlicht am 17.09.12

›Bildungswissenschaft‹

Klammheimlich hat sich ein neuer Leitbegriff im gegenwärtigen pädagogischen Fachdiskurs breitgemacht: ›Bildungswissenschaft‹. Immer selbstverständlicher und öfter wird er als Synonym für pädagogische Theoriebildung und erziehungswissenschaftliche Forschung überhaupt lanciert, zumal, wenn es um das Verhältnis von Studium und Beruf geht. Das derzeitige Begriffskonjunkturhoch könnte erklärt werden durch das den Begriffen ›Bildung‹ und ›Wissenschaft‹ inhärierende symbolische Kapital; zuweilen verspricht man der Disziplin durch Umbenennung in ›Bildungswissenschaft‹ steigendes öffentliches Ansehen. De facto forciert der Begriff deren Abschaffung.

Das Auftauchen der ›Bildungswissenschaft‹ markiert eine weitere Station umfassender Einebnungen, Neubestimmungen und Regulierungen des (inter)nationalen Bildungswesens (Entstaatlichung des Hochschulbereichs, Transformation der input zur output-Orientierung, universitäre Zwangsunterwerfung unters ökonomistische Paradigma usf.), wie sie Organisationen wie die OECD und EU-Gremien definieren und interpellieren als Voraussetzung für Erfolg und Konkurrenzfähigkeit des gemeinsamen Wirtschaftsraums. Auf diesen »stringenten Zusammenhang« haben jüngst Casale/Röhner/Schaarschuch/Sünker verwiesen. Die sukzessive nationale Umsetzung dieser transnational-performativen Direktiven vollzieht sich in diesen Tagen; an prominentester Stelle durch die Reform der lehrerbildenden Studiengänge mit dem Ziel der Einbeziehung universitärer Lehrerausbildung in den Bologna-Prozess.

Nachdem sich mit Zustimmung der OECD, unter Einfluss kybernetischer Pädagogik sowie heftigem Protest österreichischer Hochschülerschaft, 1970 die ›Hochschule für Bildungswissenschaft‹ in Klagenfurt gründete, wurde es für gut drei Jahrzehnte still um den Begriff. Nun taucht er wieder auf als gleichermaßen falsche wie geschickte Übersetzung der im OECD-eigenen Centre for Educational Research and Innovation (CERI) entwickelten ›Learning Science‹ — einer Wissenschaft, die bis dato nicht existierte, nichtsdestoweniger aber einen fundamentalen programmatischen Perspektivwechsel disziplinären Selbstverständnisses anzeigt. »[E]ducation is still in a primitive stage of development. It is an art, not a science«, heißt es lakonisch im Gründungsdokument ›Understanding the Brain. Towards a New Learning Science‹ von 2002. Diesen ›primitiven disziplinären Entwicklungsstand‹ hebt die ›Bildungswissenschaft‹ selbst in bislang ungeahnte Höhen der Reflexionslosigkeit. In ihr stehen Medizin, pädagogische Diagnostik, Psychologie und Neurowissenschaft transdisziplinär (d.h. hier: beziehungslos) nebeneinander, wobei letztere die methodische wie inhaltliche Königsstellung einnimmt: ›Bildungswissenschaft‹ als positivistische Lernwissenschaft ist Wissenschaft des Gehirns. Zu den prominentesten Opfern der ›Bildungswissenschaft‹ zählt also Pädagogik selbst; sie taucht in ihr gar nicht mehr auf. Und so, wie PISA maßgeblich die Enthistorisierung des Unterrichts vorantreibt, soll ›Bildungswissenschaft‹ studentische Gehirne vom unnötigen historischen Ballast porentief reinwaschen: »What is clear is, that ›the best of the past‹ is no longer neccessarily the best for the future.« Dabei leisten die bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaft dieser durch erzwungenen Geschichtsverlust wachsenden Bilderlosigkeit methodologisch aktive Sterbehilfe.

Für die Lehrerbildung soll strukturell eine »revolution, not reform« in Gang gesetzt werden, und zwar durch deren outsourcing von Universitäten an neu zu gründende schools of education. Diese Trennung ist nicht nur eine räumliche. Das Verdikt des Radikalschlags an Komplexitätsreduktion durch ›Bildungswissenschaft‹ wird untermauert durch einen Blick in Modulhandbücher und Vorlesungsverzeichnisse. Stolz wird dort verkündet, ›Bildungswissenschaft‹ nicht mehr von pädagogischer Fachsystematik,sondern von ominösen ›Notwendigkeiten der Praxis‹ aus zu strukturieren. Praktisch notwendig sind etwa ›Einführungen in die PC-Handhabung‹, ›Techniken für stressfreies Arbeiten‹, ›Rhetorik und Körpersprache für Lehrkräfte‹. Weitere Infantilisierung soll Lektüre besorgen. Bildungswissenschaftsfachbücher werden — nach dem Gusto eines school of education-Gründungsdekans, der »Lehrerbildung als die Zukunftstechnologie in einer Wissensgesellschaft« öffentlich anwirbt — »an Verständlichkeit und Farbigkeit« angelsächsischen Vorbildern bald in nichts mehr nachstehen. Hier stand wohl das Konzept ›gehirngerechten Lernens‹ — noch so ein Unwort — Pate; Schelsky hätte das ›Reprimitivisierung des Bewusstseins und der Welt‹ genannt. Sicherlich, eine Rechnung wird damit aufgehen: mehr input durch »Nivellierung der Ansprüche« (H.-P. Klein) am Gymnasium, mehr output durch dieselbe Strategie an schools of education.

Wer also künftig in ›Bildungswissenschaft‹ seinen workload ableistet, wird einem kernsanierten resp. entkernten Containerfach begegnen. Die Umbenennung wissenschaftlicher Pädagogik in ›Bildungswissenschaft‹ stellt eine empfindliche Gefährdung disziplinären Selbstverständnisses, ihrer Einheit und Autonomie dar. Es scheint an der Zeit, das pädagogische Unbehagen an der ›Bildungswissenschaft‹ zu artikulieren.

(Quelle: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 1/11)