Veröffentlicht am 23.08.22

Bildungspolitischer Rückzug ins Funktionale

Noch vor Kurzem fehlten in der Schweiz Hunderte von Lehrkräften. Nun startet das neue Schuljahr, die meisten Stellen sind besetzt – viele mit sogenannten Laienlehrpersonen LLP. Courant normal? Und kann die Bildungspolitik einfach weiterfahren wie bisher?

Von Carl Bossard

Beim Beginn der Sommerferien waren allein im Kanton Zürich 260 Stellen nicht besetzt. Händeringend suchten Schulgemeinden nach Lehrpersonen; verzweifelt wurden Pensionierte angeschrieben, Inserate publiziert und Videos aufgeschaltet. In ihrer Not stellten die Verantwortlichen auch Leute ohne Diplom ein. Über 300 sogenannte Laienlehrpersonen LLP, kurzfristig rekrutiert, sind in diesen Tagen an den Zürcher Schulen gestartet.

Das Wesentliche der Schule geschieht im Kernbereich
Noch vor Kurzem verlangten die Pädagogischen Hochschulen der Schweiz für die Kindergärtnerinnen und die Primarlehrer eine Ausbildung mit mindestens neun Semestern und einem Master-Abschluss. Der Beruf sei äusserst anforderungsreich geworden, und die Gesellschaft verlange es, wurde argumentiert. Nun genügen das Interesse und die Freude an Kindern, der Spass am Unterrichten und das Gefühl: «Das traue ich mir zu!» Und schon kann man vor eine Schulklasse treten, die Kinder ins Können und Wissen einführen und junge Menschen auf ihrem Lern- und Lebensweg begleiten. Wie wenn es das Einfachste der Welt wäre und ein einwöchiger Crashkurs genügte!

Doch wer in den Unterricht hineinzoomt, entdeckt etwas höchst Anspruchsvolles, ein magisches Dreieck. Es ist der elementare Kern jeder Schule: die Trias zwischen Lehrerin/Ausbildner – Schülerin/Schüler – Unterrichtsinhalt. Ein geheimnisvoller Dreiklang mit drei Achsen: die tragende und prägende pädagogische zwischen der Lehrperson und den Jugendlichen einerseits, die eminent wichtige fachdidaktische Komponente anderseits und als Drittes das fachliche Fundament. Diese drei Achsen bilden den Resonanzraum. Da drin ereignet sich das Eigentliche und Wesentliche von Schule und Unterricht; hier erfolgt das Α und Ω des pädagogischen Alltags: die Grundbildung als Basis für alles weitere Lernen.

Die Kinder unterrichten und sie nicht einfach begleiten
Es sind die Mikroprozesse des Lernens: Dazu gehören das Aufbauen mit dem Verstehen, das Konsolidieren mit dem Festigen und Üben, sei es von Wissen oder Können, sowie das Anwenden des Gelernten – und das Zusammenspiel dieser Teilprozesse mit all den vielfältigen, filigranen Verknüpfungen im aktivierten Gedächtnis.

Für den systematischen Aufbau der Grundfertigkeiten ist dieses schulische Kerngeschehen grundlegend. Gute Lehrerinnen und Lehrer wissen dies; sie wissen, worauf es bei diesen Mikroprozessen des Lernens ankommt. Sie fokussieren bei ihrer Arbeit auf diese Aspekte; sie organisieren nicht einfach Unterricht, sie verabreichen nicht einfach Arbeitsblätter, sie begleiten nicht einfach digitale Lernprogramme. Nein, bei ihnen kommen Kinder mit dem Denken in Berührung; sie werden, wie es heisst, kognitiv aktiviert. Diese Lehrpersonen organisieren strukturierte Lernprozesse; sie konzentrieren sich auf die Qualität ihres pädagogischen Wirkens – und damit auf ein effizientes individuelles und soziales Lernen ihrer Kinder. Das verlangt viel. Wer seinem Unterricht diesen Fokus zugrunde legt, trägt ganz im Stillen, aber äusserst wirksam zur Chancengleichheit bei.

Lehrermangel: Die Qualität der Schule leidet nicht
Im pädagogischen Handeln prägt vermutlich das Wie jedes Was: Wie ich als Lehrer meinen Schülerinnen und Schülern gegenübertrete und als Pädagogin mit ihnen ins Gespräch komme und mit den Inhalten vertraut mache – wie ich sie ermutige, wie ich sie zu sich selbst führe und damit zum Denken als innerem Dialog zwischen mir und mir selbst. Das alles geschieht in diesem pädagogischen Dreieck. Hier liegt die Qualität des Unterrichts. Das erfordert hohes berufliches Wissen und Können.

Doch davon ist im Moment kaum die Rede. Die verantwortlichen Bildungsfunktionäre schauen weg. Ob die Qualität der Zürcher Schule wegen des Lehrermangels leide, wurde der kantonalzürcherische Abteilungsleiter Lehrpersonal, Matthias Weisenhorn, gefragt. „Nein!“, lautete seine Antwort. (1) Er tut so, als ob alles in Ordnung sei: Hauptsache, die Stellen sind irgendwie besetzt. Dabei unterrichten gegen dreissig Prozent der Lehrerinnen und Lehrer auf einer Stufe oder in einem Fach, ohne dafür ausgebildet zu sein. Doch kaum jemand aus den Bildungsdirektionen will dieses Faktum als das hinstellen, was es ist: eine Notmassnahme, die sich seit Jahren angekündigt hat und der niemand rechtzeitig entgegengetreten ist. Von den Folgen für die Schülerinnen und Schüler ganz zu schweigen!

Warum verharrt die Bildungspolitik in Schockstarre?
Dabei stellen sich viele Fragen: Wird der Notfall zur Normalität? Und was hat das – beim ramponierten Lehrerimage – für Konsequenzen auf die gut ausgebildeten Lehrkräfte? Warum benennen die politischen Verantwortungsträger und die Bildungsstäbe die aktuelle Situation nicht deutlicher? Und warum beschönigen die Verantwortlichen und sprechen euphemistisch von «gut qualifizierten Personen ohne anerkanntes Diplom»?

Während Jahren war die Schule eine Baustelle. Reform über Reform. Hunderte von Innovationen. Und der Effekt? Die Wissenschaft kann ihn nicht benennen. (2) Im Alltag zeigen sich die Folgen der Reformen auch auf Pädagogenseite: Dem akuten Lehrermangel ging die Flucht aus dem Schulzimmer voraus. Daraus ergibt sich die wohl wichtigste Frage: Warum werden die Zustände in der Schullandschaft nicht kritisch analysiert und daraus gezielt und zügig mutige Reformschritte eingeleitet?

«Ohne Lehrer wäre ich ärmer»
«Was ich […] nötig hatte, das waren Lehrer», schreibt der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss. (3) Gut ausgebildete und engagierte. Und die fehlen im Moment zu Hunderten. Sie kehrten der Schule den Rücken. Darum darf es keine Rückkehr zum Courant normal geben. Es wäre dringend Zeit für eine umfassende Reform der vielen Reformen. Der Fokus muss im pädagogischen Dreieck liegen. Hier erfolgen die Kernprozesse des Lernens. Diese Kernprozesse steuern und strukturieren verlangt hohes pädagogisches Geschick.

«Ohne Lehrer wäre ich ärmer», ist Bärfuss überzeugt. (4) Dem ist wohl nichts beizufügen.

1) Nils Pfändler, «Keine Bewerbungen. Null», in: NZZ, 04.07.2022, S. 11.
2) Martin Beglinger, «Das ist vernichtend», in: NZZ, 31.08.2018, S.53.
3) Lukas Bärfuss (2018), Stil und Moral. Essays. München: btb Verlag, S. 152.
4) Ebda, S. 160.