Veröffentlicht am 25.07.12

›Bildungsverlierer‹

Die semiotischen Genlabors der Reformer starten einen neuen Freilandversuch: Über Fachzeitschriften, Nachrichtenredaktionen und Feuilletons streuen sie den Terminus ›Bildungsverlierer‹ in die diskursiven Biotope einer bildungshysterischen Gesellschaft. Dort findet er einen fruchtbaren Boden vor und schlägt Wurzeln in Gestalt einer Geste sozialer Zuwendung zu den Schwachen, deren Not er vermeintlich aufdeckt und schonungslos benennt.

Tatsächlich ist es ein Skandalon, dass trotz der unermüdlichen Reformanstrengungen der Politik so viele Menschen an — auch so ein Wort — ›Bildungsarmut‹ leiden: ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ und immer häufiger auch ›Menschen mit männlichem Geschlecht‹. Angesichts dieser bitteren Diagnose werden Forderungen laut, man möge rasch ›nach-‹ oder sogar ›gegensteuern‹ — wer wollte dem widersprechen? Kommt jedoch der begriffliche Bodendecker erst einmal zur Blüte, wird er seine gefährliche Saat streuen: Die Botschaft nämlich, dass Bildung ein ernstes Gesellschaftsspiel ist, in dem und durch das Verlierer generiert werden. Unsere Schule erscheint im Lichte dieses Ansatzes als Spielhölle: Einarmige Banditen, Hütchenspiele, Counterstrike, Malefiz oder Monopoly geraten zu explikativen Modellen einer institutionellen Bildungsbiographie. In legitimatorischen Erzählungen der Humanwissenschaften werden die aleatorischen Unglücksspiele zu Kampfspielen stilisiert, die den Fleißigen und Klugen zum Helden mit Arbeitsplatz küren und den Verlierer dem schlanken Staat zum Wohlfahrtsfraß vorwerfen. ›Jeder ist seines Glückes Schmied!‹ Und wenn erst einmal alle Menschen empowered und inkludiert sind, sind auch alle Gewinner! Doch das Versprechen einer immerwährenden Win-Win-Situation, die sich dann einstellt, wenn denn nur alle die notwendige Geschmeidigkeit ins Spiel bringen, ist schon im Bereich des Geschäftslebens eine Lüge, solange der Fokus nur auf der Feier der trunkenen Gewinner liegt. Denn einer zahlt immer den Preis, aber der bleibt meist im Dunkeln: Die ausgebeutete Natur, die künftigen Generationen, die Armen in allen Teilen der Welt … Eine wesentliche Funktion der Schule ist die Selektion nach Maßgabe politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Verwertungsinteressen. Noten bilden zu diesem Zweck Rangfolgen in Hinblick auf soziale Bezugsnormen und scheiden die Erfolgreichen von den Losern, wie sich schon Erstklässler untereinander hämisch titulieren. Alle pädagogischen Ambitionen einer Ermächtigung der Schwachen zerschellen unter diesen Bedingungen an der Gauß-Kurve, die gnadenlos auf der statistischen Normalverteilung beharrt: Wer ›gut‹ oder ›sehr gut‹ sagen möchte, muss auch ›mangelhaft‹ und ›ungenügend‹ sagen. Wer Siegern den Lorbeer überreicht, muss die Verlierer in den Staub stoßen. Jeder Lehrer weiß um diesen Zusammenhang: Manche genießen es, sich zum Richter über Biographien aufzuspielen, manche beruhigen sich mit sozialpädagogischen Übersprungshandlungen für die Versager oder verklären die Selektion zu einer zutiefst pädagogischen Angelegenheit im Sinne der Anerkennung von individueller Leistung. Andere wiederum leiden an dieser Aufgabe und buhlen bei den Schülern, die sie verurteilen müssen, noch um Mitgefühl für die Bürde der schweren Entscheidung (›Du musst das verstehen …‹) Am Ende steht allenthalben dasselbe: Einigen steht die Welt offen und anderen wird klar, dass sie ausgespielt haben.

Es wäre selbstverständlich naiv anzunehmen, dass Bildung — etwa zu Humboldts Zeiten — nicht auch schon dazu gedient hätte, gesellschaftliche Allokationsprozesse zu organisieren. Doch für die exponierten Positionen des Bildungsdenkens stand stets ein höherer Anspruch auf dem Spiel: Ideenschau, Vollendung der göttlichen Schöpfung auf Erden, Menschwerdung, Individualität, Subjektivität oder verantwortungsvolle Hingabe an die Sache und das Ganze. Das Anstreben dieser Ziele bedeutete mehr, als nur den eigenen Stein in vorteilhafter Weise zu setzen und die Anderen aus dem Spiel zu werfen. Der wesentliche Unterschied zwischen gestriger Bildung und ihrem heutigen Wiedergänger besteht nämlich darin, dass die Spielzüge im Namen der Bildung nicht nur auf dem gegebenen Plan und innerhalb der bestehenden Regeln ausgeführt werden. Vielmehr setzt sich der Spieler in je ideengeschichtlicher Brechung zu den gesellschaftlichen Spielfeldern und -regeln ins Verhältnis. Sein Spielzug hat dementsprechend — schon allein in seiner reflexiven Struktur — notwendig eine widerständige Qualität, die die Macht der Spieler auch auf das Erspielen der Spiele erweitert. Die Rede vom ›Bildungsverlierer‹ will uns vergessen machen, dass wir uns nicht nur Sieg und Niederlage im Spiel zuschreiben können, sondern dass wir die Spiele, die wir gemeinsam inszenieren, auch selbst verantworten müssen und gestalten dürfen. Gerät diese Verantwortung aus dem Blick, werden wir alle zu Bildungsverlierern. Faites vos jeux, s’il vous plaît!

(Quelle: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 3/09)