Veröffentlicht am 05.05.20

Bildungschaos in Zeiten von Corona

Der Verzicht auf Leistungsnachweise für Versetzungen und Abschlussprüfungen sowie der Glaube an die Wirksamkeit des digitalen Fernunterrichts sind nicht nur pädagogisch falsche Wege

Von Hans Peter Klein

Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat gerade einen Fahrplan vorgelegt, nach der der Schulbetrieb in den kommenden Wochen nach und nach mit halben Klassen im Präsenzunterricht starten soll. Die andere Hälfte der Schüler soll sich jeweils zuhause mit digitalen oder analogen Lernangeboten beschäftigen. Demgegenüber steht die Forderung einiger Landes-Elternvertretungen nach sofortiger Beendigung des Schuljahres. Unkalkulierbare gesundheitliche Risiken könnten dadurch nicht nur für die Kinder selbst, sondern auch deren Kontaktpersonen ausgeschaltet werden. Auch Bildungssenator Ties Rabe aus Hamburg äußerte sich entsprechend, dass bis zu den Sommerferien in Hamburg keinesfalls der reguläre Schulbetrieb wieder aufgenommen werden könne. Er gehe sogar von zumindest teilweisem Fernunterricht auch im kommenden Schuljahr aus. Die Befürworter einer schnellen Öffnung argumentieren hingegen nicht zuletzt mit kaum aufholbaren Bildungsdefiziten von Kindern und Jugendlichen unbekannten Ausmaßes. Insbesondere die Kinder aus bildungsfernen Haushalten ohne häusliche Unterstützung wären die eigentlichen Leidtragenden der Entwicklung. Außerdem seien in einem immer größer werdenden Teil der Bevölkerung Eltern und ihre zuhause mit Kontaktverboten belegten Kinder völlig überfordert. Immer mehr Bundesländer haben daher aktuell die Leistungsbewertung auf den Stand von vor der Corona-Krise eingefroren. In einigen Bundesländern soll eine Notenvergabe für das restliche Schuljahr entweder ganz entfallen oder nur dann stattfinden, wenn die Schüler sich dadurch verbessern können. Gleichzeitig sollen alle Schüler unabhängig von ihren Noten in die nächste Jahrgangsstufe versetzt werden. Ein Sitzenbleiben soll es nur noch mit Zustimmung der Schüler oder Eltern geben. Christian Lindner ruft angesichts ungenügender digitaler Angebote und Ausrüstung gar eine nationale Katastrophe im Bereich der digitalen „Bildung“ aus und fordert im Tagesspiegel einen „digitalen Quantensprung für unser Bildungssystem“. Im Folgenden sollen die unterschiedlichen Standpunkte einer kurzen pädagogischen und pragmatischen Bewertung unterzogen werden.

Die aktuelle Empfehlung der Kultusministerkonferenz nach einem abwechselnden Präsenz- und Fernunterricht mit halber Schülerschaft scheint in COV-19 Zeiten mit der zusätzlich reduzierten Lehrerschaft in der Tat wenig durchdacht

Erinnern wir uns dazu noch einmal an die Einführung von G8 zu Beginn der Jahrtausendwende. Anfang der 00er Jahre war es anscheinend ohne jegliche Problematik möglich, im Zuge der Ökonomisierung der Bildung die Schulzeit gleich um ein ganzes Jahr zu verkürzen. Von sozialen Benachteiligungen war hier damals nichts zu hören. Dies sollte sogar die Bildung aller Kinder professionalisieren, so der fromme Wunsch. Ein Jahr mehr oder weniger Schule sei schließlich irrelevant. Widersprüche dagegen gab es anfangs keine. Es war sogar ohne Probleme möglich, in G8 beispielsweise in der Jahrgangsstufe 10 noch ein Auslandsjahr einfließen zu lassen, ohne dass dazu eine Wiederholung des Schuljahres nötig gewesen wäre. Diese Schüler absolvierten praktisch ein G7 und das durchaus mit teilweise Bestnoten im Abitur. Zugegebenermaßen wurde hier ein seit der Jahrtausendwende politisch gewollter kontinuierlicher Niveauverfall zur Steigerung der Abiturientenquoten billigend in Kauf genommen. Erst im Laufe der Jahre wurden immer mehr Stimmen laut, die in den letzten Jahren zu einer Rückkehr zu G9 geführt haben. Derzeit gibt es aber immer noch Bundesländer, die G8 zumindest in Teilen beibehalten haben. Jetzt regt man sich ausgerechnet auch hier darüber auf, dass eine rund dreimonatige Kürzung eines Schuljahres Deutschland in den Bildungsnotstand führen würde.

Auch die aktuelle Empfehlung der Kultusministerkonferenz nach einem abwechselnden Präsenz- und Fernunterricht mit halber Schülerschaft scheint mit der zusätzlich reduzierten Lehrerschaft in der Tat wenig durchdacht. Wie sollen die jetzt schon nicht in ausreichender Zahl vorhandenen Lehrer – Lehrer über 60 Jahre und mit Vorerkrankungen brauchen derzeit keinen Unterricht zu erteilen – auch noch halbe Klassen im Präsenzunterricht und die andere Hälfte in einem wie auch immer gestalteten Fernunterricht zu einem sinn- und verständnisvollen Lernen führen? Und dies noch unter der Berücksichtigung, dass letzterer nicht einmal alle Schüler erreicht.

Leistungsschwachen Schülern und solchen aus bildungsfernen Schichten, die durch die digitalen Lernangebote und Fernbeschulung den Anschluss verlieren, bietet man die Wiederholung der entsprechenden Jahrgangsstufe an

Denn die Klagen wegen zunehmender Ungerechtigkeit derartiger Fernbeschulung von Kindern bildungsferner Bevölkerungsschichten, die nun einmal nicht in der Lage sind, ihre Kinder angemessen zu unterstützen, werden immer lauter. Allerdings ließe sich dieses Problem bei auch noch länger andauerndem Shutdown eigentlich relativ einfach lösen. Die Lehrer vor Ort als Experten könnten in der Lernentwicklung zurück gebliebenen Kindern und deren Eltern nahe legen, das Schuljahr ohne Nachteile einfach zu wiederholen. An den entstehenden Zusatzkosten würde Deutschland sicherlich nicht zugrunde gehen. Auch in der Vergangenheit haben solche Wiederholungen jedenfalls niemandem geschadet, vielen mit Defiziten im Lernstand oder auch in der Reife sicherlich genützt. Wer stattdessen jetzt unabhängig vom tatsächlichen Leistungsstand alle Schüler in die nächste Jahrgangsstufe versetzt oder nur noch die Vergabe guter Noten erlaubt, der verschiebt nicht nur die Lerndefizite jeweils um ein Jahr, sondern nimmt billigend in Kauf, dass sich die Nivellierung der Ansprüche bis hin zum Abitur weiter verschärft.

Sollten die Abiturprüfungen ausfallen, wird dies einer weiteren Nivellierung selbst grundlegender Ansprüche Tür und Tor öffnen, von der auch die Hochschulen nachhaltig betroffen sein werden

Statt jetzt also überstürzt Präsenzunterricht für alle im Wechsel zu erteilen, hätte man gerade im Mai und Juni in Ruhe die Abschlussprüfungen und das Abitur nur mit den Schülern der Abschlussklassen durchführen können, ohne die Corona-Vorgaben zu ignorieren oder die Schüler zu gefährden. Völlig kontraproduktiv sind die immer lauter werdenden Rufe und mittlerweile anhängigen Klagen von Schülern – mit teilweise logistischer Unterstützung durch die zuständigen Kultusministerien – nach Vergabe des Abiturs auf Basis der bisher in den Qualifikationsphasen erreichten Noten. Die statistischen Daten der erzielten Abiturprüfungsergebnisse in verschiedenen Bundesländern geben eindeutig darüber Aufschluss, wie unterschiedlich die Vornoten in diesen Phasen von Land zu Land und von Schulform zu Schulform selbst innerhalb des gleichen Bundeslandes gegeben werden. In NRW – und nicht nur dort – war schon 2009 anhand der den Ministerien vorliegenden Daten eindeutig zu entnehmen, dass beispielsweise die Vornoten in den Q-Phasen an Gesamtschulen im direkten Vergleich mit denen an Gymnasien deutlich “auf erhöhtem Niveau” vergeben wurden. Die Abiturprüfungsergebnisse wiesen dies eindeutig nach, da sich die Leistungen der Schüler beispielsweise im schriftlichen Abitur an Gesamtschulen im Abitur gegenüber den erreichten Ergebnissen in den Qualifikationsphasen im Durchschnitt deutlich verschlechterten, ganz im Gegensatz zu denen an Gymnasien, die meist in ihren Vornoten etwas schlechter beurteilt worden waren.

Würde man also die Abiturprüfungen ausfallen lassen, würde dies der weiteren Nivellierung selbst grundlegender Ansprüche Tür und Tor öffnen. Und gerade die Bundesländer, die anscheinend ihr Abitur schon zu Dumpingpreisen anbieten und dabei höchste Abiturientenquoten seit Jahren generieren, scheinen hier für ihr Klientel unabhängig von deren tatsächlicher Leistung deutlich bessere Bewerbungs- und Annahmechancen an den Hochschulen ermöglichen zu wollen. Auch hier wird die Absenkung der Ansprüche von einigen Kultusministerien ganz offensichtlich billigend in Kauf genommen. Die hier u.a. auch vorgebrachte Behauptung, die Schüler seien im Fernunterricht nicht oder nur unvollständig auf die Abiturarbeiten vorbereitet worden, ist nur wenig einsichtig. Schließlich fanden auch in den regulären Präsenzzeiten ab Anfang Februar bis Mitte März und teilweise sogar bis zu Beginn der Osterferien Vorbereitungen auf die Abiturprüfung statt – danach war auch in anderen Jahren die effektive Schulzeit mit dem letzten Schultag beendet. Zudem erhielten in den meisten Bundesländern Schüler die Möglichkeit, die Wiederholung prüfungsrelevanter Themen durch digitale Angebote zu intensivieren. In die Röhre schauen jetzt vor allem die Abiturienten in den Bundesländern, die einen weiteren Niveauverfall für nicht mehr vertretbar halten und ordnungsgemäß ihre Abiturprüfungen durchführen.

Hier wird der Bildungsföderalismus zu einer nicht mehr zu akzeptierenden Gerechtigkeitsfalle und es verwundert eigentlich schon, dass bisher noch keine Klagen gegen die ausschließliche Vergabe der Studienplätze nach Abiturnoten gerichtlich anhängig sind. All dies würde auch die Universitäten weiter mit in diese Abwärtsspirale einbeziehen, da diese jetzt schon dazu verdonnert sind, nicht nur in Erstsemesterveranstaltungen ihre Anforderungen zuerst einmal an das Mittelstufenniveau ihrer neuen Studierenden anzupassen.

Digitaler Fernunterricht kann dabei nur der absolute Ausnahmefall sein, ansonsten forciert er nicht nur soziale Disparitäten, sondern führt auch direkt in die Praxis der Unbildung

Auch die Warnungen vor einer digitalen Apokalypse Deutschlands, ausgerufen im Zeichen der Corona-Krise von Christian Lindner im Tagesspiegel, sind alles andere als angebracht und erst recht nicht durchdacht. Gerade die COV-19 Krise hat jedem Digitalenthusiasten doch wohl klar vor Augen geführt, dass nur der lehrergesteuerte Präsenzunterricht die herausragende Leistung einer schulischen personalen Bildung ist. Digitaler Fernunterricht kann dabei nur der absolute Ausnahmefall sein, ansonsten forciert er nicht nur soziale Disparitäten, sondern führt auch direkt in die Praxis der Unbildung. Das wiederum heißt nicht, dass digitale Lernangebote von vornherein nichts in den Schulen und Hochschulen zu suchen haben. Ganz im Gegenteil können sie dort, wo sie einen tatsächlichen Mehrwert bieten, durchaus mit Erfolg eingesetzt werden.

Alle Elite-Universitäten nicht nur der USA legen auch im heutigen digitalen Zeitalter ihre gesamte Aufmerksamkeit in eine für zwingend erachteten Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden. Betreuungsverhältnisse von 1:10 oder darunter kosten natürlich meist fünfstellige Summen pro Semester, werden aber für unausweichlich für eine gute Bildung durchaus auch im Sinne eines Wilhelm von Humboldt als alternativlos angesehen. Auch die Elite im Silicon-Valley schirmt ihre Kinder nicht nur zuhause von digitalen Medien weitgehend ab. Sie schickt sie auch zunehmend auf Waldorfschulen, die durch ihre weitgehende digitale Medieneabstinenz einen enormen Zulauf zu verzeichnen haben. Auch die vor rund zehn Jahren von Harvard auf den Weg gebrachten Massive Open Online Courses, auch MOOC´s genannt, sind längst glorreich gescheitert. Dies hat sich in Deutschland bei den Entscheidungsträgern anscheinend noch nicht herum gesprochen oder die Protagonisten der Digitalindustrie haben dies erfolgreich zu verhindern gewusst.

Ausblick

Fassen wir zusammen: eine überstürzte Öffnung der Schulen für ein jeweils ausgewähltes Schülerklientel im stetigen Wechsel ist derzeit aufgrund der nur unvollständig vorbereiteten Schulen bezüglich der Hygienemaßnahmen und des Abstandhaltens kaum zu rechtfertigen und führt weder zu einem Wissenszuwachs für alle noch zu einem pädagogischen Mehrwert. Eine wie auch immer gestaltete Fernbeschulung sollte vorerst als hoffentlich einmaliger Notfall weitgehend beibehalten werden. Erst dann, wenn die Luft im wahrsten Sinne des Wortes wieder halbwegs rein ist, könnte man vielleicht im Herbst unter Berücksichtigung neuester epidimologischer und medizinischer Entwicklungen zu COV-19 eine dann mit ausreichendem Zeitvorlauf vorbereitete Öffnung der Schulen vornehmen. Schüler aus bildungsfernen Schichten, die durch digitale Lernangebote und Fernbeschulung den Anschluss verlieren, bietet man die Wiederholung der entsprechenden Jahrgangsstufe an. Im Mai und Juni dieses Jahres führt man wie gewohnt alle Abschlussprüfungen und das Abitur in Ruhe durch, wenn notwendig auch mit ausreichender Zeitverzögerung. Und dass man Eltern mit Kindern dadurch ein ungewohntes und teilweise ungewolltes Verbleiben unter einem Dach „rund um die Uhr“ weiterhin zumutet – auch hier dürfte eine langsame Lockerung der verordneten Regeln in den nächsten Wochen zu einer Entspannung der Lage führen – ist sicherlich nicht optimal, aber unter Berücksichtigung der Alternativen sicherlich der am wenigsten gefährliche Weg für alle. Neueste Kassandrarufe, nach denen der gekoppelte Präsenz- und Fernunterricht auch noch das ganze Jahr 2021 stattfinden müsse, da vorher kein Impfstoff zu erwarten sei, haben anscheinend das noch bis vor Kurzem ausgerufene Ziel, eine Herdenimmunität durch Infektion kaum gefährdeter Bevölkerungsschichten zu erreichen, komplett ausgeschlossen.

Es vergeht keine Woche, in der nicht neue „Experten“-Vorschläge öffentlichkeitswirksam die Runde machen. Wie im Fußball gibt es auch im Bildungsbereich über 80 Millionen Experten, schließlich war ja jeder einmal in der Schule. Stattdessen sollte man vor allem auch einmal die Experten vor Ort zu Rate ziehen und das sind nun einmal die Lehrer. Wenn die sich in ihrer pädagogischen Expertise – ähnlich wie die Virologen in ihrer medizinischen – sicherlich auch nicht komplett einig sind, dürften sich dennoch viele der wenig durchdachten Vorschläge nicht nur der KMK, sondern vor allem auch die kaum in Einklang zu bringenden Konzepte der einzelnen Bundesländer weitgehend als Irrwege herausstellen. Ein Schulleiter eines Niedersächsischen Gymnasium kommentierte die aktuelle Situation zutreffend: Das bildungspolitische Chaos derzeit ist unerträglich, man hätte das Schuljahr beenden und alle Lehrer in die Notbetreuungen stecken sollen.

Der Autor war Professor für Didaktik der Biowissenschaften der Goethe Universität Frankfurt, Mitbegründer der Gesellschaft für Bildung und Wissen und ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften.