Veröffentlicht am 12.07.22

Bildung und Digitalisierung. Lehren aus der Pandemie

Durch Covid 19 erzwungene (Hoch)Schulschließungen und Onlinelehre waren ein unfreiwilliger Praxistest für netzbasierte Lehre. Das Ergebnis vieler Studien zeigt für alle Schulformen, Alter der Probanden und Fachinhalten: Nicht Medientechnik ist entscheidend, sondern Lehrpersönlichkeit, ein gut strukturierter Unterricht und der lernförderliche Dialog der Beteiligten. Das kann zur Not zeitlich begrenzt (!) digital substituiert, der Sozialraum Schule aber nicht ersetzt werden.(Forschung im Fokus, Heft 2022, S. 12-15)

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Das Zauberwort „digital“

Auf 177 Seiten des Koalitionsvertrags der Ampel-Regierung vom Dezember 2021 steht fast 270 mal der Begriff „digital“ in allen denkbaren Varianten, als Substantiv, Verb oder Adjektiv, ohne zu definieren, was jeweils gemeint ist. Vom digitalen Aufbruch über digitale Bildung, Teilhabe und Bürgerrechten findet sich ein bunter Reigen an Komposita bis zum pauschalisierten digitalen Zeitalter. Digital first for anything? Ein Schüler des Konfuzius fragte den Meister, was dieser als erstes täte, wenn er regieren müsste. Die Antwort: „Die Richtigstellung der Begriffe.“ Dem erstaunten Schüler antwortet Konfuzius, dass durch den falschen Gebrauch von Worten und Begriffen die Sprache konfus würde. Es käme zu Unordnung und Misserfolg. Anstand, gute Sitten und Werte würden unsicher, das Volk wüsste nicht, was zu tun und zu lassen sei. Darum sei es wichtig, Begriffe und Worte korrekt zu benutzen – und danach zu handeln. „Der Edle duldet nicht, daß in seinen Worten irgend etwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt.“ (Kungfutse, 1975, S. 131)

Von Digitalisierung zu Digitalität

Die Definition wichtiger Begriffe steht daher am Beginn dieses Beitrags. Digitalisierung als Substantiv, digitalisieren als Verb bedeutet, beliebige Information maschinenlesbar zu machen. Ob Text oder Bild, Mimik oder Gestik oder Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit: Alles wird durch passende Sensoren, Kameras oder Mikrofone aufgezeichnet und technisch zu Daten und Datensätzen konvertiert. Diese Digitalisate werden anschließend nach der Logik von Datenverarbeitungssystemen (!) und mit Hilfe entsprechender Programme weiter ver- und bearbeitet.

Spricht man von Digitalisierung im Kontext von Sozialsystemen (Arbeit, Bildung, Gesundheit), bedeutet Digitalisierung, dass Daten über menschliches Verhalten, aber auch Emotionen (5-Faktorenmodell, s.u.) und Stimmungen aufgezeichnet und maschinenlesbar gemacht werden. Algorithmen (d.s. Handlungsanweisungen bzw. Operationsbefehle, wie Rechner Daten zu verarbeiten haben) werten diese Verhaltensdaten aus und berechnen z.B. die nächsten Aktionen, Angebote oder Inhalte, um die Nutzer möglichst lange am Bildschirm zu halten.

Digitale Transformation bezeichnet die Forderung der IT- und Wirtschaftsverbände, zunehmend alle menschlichen Lebensbereiche nach den Parametern, der Logik und den Anforderungen von Datenverarbeitungssystemen und Datenökonomie umzustrukturieren und so der Logik von Algorithmen und Berechenbarkeit anzupassen. Die Konsequenz: Es zählt zunehmend nur noch das, was als Daten erfasst (datafiziert) und berechnet werden kann. Nicht mehr der Mensch mit seinen Bedürfnissen steht im Mittelpunkt technischer Anwendungen, sondern die Effizienz und Optimierung der Datenverarbeitungssysteme. Big Data oder (da Big Data nach Big Brother klingt) die vermeintlich objektivierenden Data Sciences, sind die neue Leitdisziplin der Automatisierer und Kontrolleure, wenn man den Zuboffschen Dreisatz der IT-Logik (Automatisieren – Digitalisieren – Kontrollieren) zugrundelegt (Zuboff 1988).

Der relativ neue Begriff Digitalität soll die digital codierte Verbindung zwischen Menschen, zwischen Menschen und Objekten und zwischen den Objekten des „Internet of Things (IoT) umfassen. Statt der eher technischen Definition von Digitalisierung sollen mit Digitalität soziale und kulturelle Praktiken beschrieben werden, ähnlich dem (ebenso ungenauen) „Digital Lifestyle“. Der Begriff beschreibt de facto aber nur die Akzeptanz der Allgegenwart und permanenten Interaktion von Menschen mit digitalen Endgeräten und netzbasierten Diensten. Damit wird im Gewand einer kulturwissenschaftlichen Diskussion der Raum für das bereitet, was Marc Zuckerberg (Meta, vormals Facebook) als kommerzielles Metaverse (dt. Metaversum) auf den Markt bringen will: das Verschmelzen von realer und virtueller Welt zu einem neuen Geschäftsbereich. Metaverse wurde von Virtual Reality-Fans bereits für Second Life adaptiert. Eingeführt hat ihn der Science-fiction-Autor Neal Stephenson 1992 in seinem Roman „Snow Crash“. Der Roman ist eine Dystopie: In den USA herrschen nach einer schweren Wirtschaftskrise hohe Arbeitslosigkeit, Armut und Gewalt. Viele Menschen flüchten daher in virtuelle Scheinwelten.

Vermessen statt Unterrichten

Für alle drei Begriffe wird Alternativlosigkeit behauptet und der Mensch als selbstbestimmt Handelnder negiert. Für den Bildungssektor sind es Akteure der Global Education Industries (GEI) und StartUps der eLearning- und EdTech-Branche (Education Technologies), neben formal gemeinnützigen Stiftungen. Damit verbunden ist ein Paradigmenwechsel, der aus dem angelsächsischen Raum massiv nach Europa drängt: die Privatisierung und Kommerzialisierung von Bildungsangeboten. Bildung wird zum Geschäftsfeld. Wer „Bildung“ als Dienstleistung verkaufen will, muss Bildungsprozesse als steuerbar behaupten und Erfolgskontrollen anbieten. Lernprozesse müssen mess- und regelbar werden. Das ist das Feld der empirischen Bildungsforschung und Psychologie. Das Ergebnis: Messmethoden für Lernleistungen statt Pädagogik und Didaktik.

Diese Ideen sind nicht neu. Ein Vorläufer und Impulsgeber war z.B. William Stern, einer der Vordenker der Allgemeinen Psychologie. Er prognostizierte bereits im Jahr 1900 die „Psychologisierung des gesamten menschlichen Lebens“. Stern und Kollegen wie Hugo Münsterberg postulierten schon 1912 als psychotechnische Maxime: „Alles muss messbar sein.“ (Stern 1903) Dafür entwickelten Psycho-Ingenieure passende Psycho-Techniken. Daraus wurde die „Lehre der unbegrenzten Formbarkeit des Einzelnen“ . (Gelhard, 2011, 100) Der Psychologe David McClelland wiederum leitete daraus das „pädagogische Versprechen einer umfassenden Formbarkeit des Menschen“ ab. (ebda., 120).

Auch Emotionen sind nach diesem Verständnis Kompetenzen, die man trainieren und zur Selbstoptimierung verändern kann. Dazu dient u.a. das Fünf-Faktoren-Modell (engl. OCEAN) nach Louis Thurstone, Gordon Allport und Henry Sebastian Odbert. Die Persönlichkeitsmerkmale Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit und emotionale Stabilität ergeben in der jeweiligen Stärke und wechselseitigen Abhängigkeiten präzise Abbilder der Persönlichkeitsstruktur, der mentalen und psychischen Belastbarkeit, des emotionalen wie sozialen Verhaltens, der sexuellen Präferenzen u.v.m. Der Mensch und seine Psyche werden durch das Vermessen transparent, das Individuum steuerbar. Dazu muss man personalisierte Daten erfassen und auswerten. Dazu dienen digitale Endgeräte und die Identifikation der Probanden durch das Login. Die personalisierten Daten werden zu Profilen mit charakteristischen Merkmalen von Personen kondensiert – die sogenannten digitalen Zwillinge, mit denen menschliches Verhalten per Web und App modifiziert (Nudging, Selftracking) oder manipuliert werden kann (Influencing, Propaganda, Werbung). Software mit vergleichbaren Aufzeichnungs- und Steuerungspotentialen kommen aktuell verstärkt als Lernsoftware, Lernmanagementsoftware, Serious Games und Virtual Reality (VR)-Anwendungen in die Bildungseinrichtungen.

Nur funktioniert es nicht. Das bestätigen aktuelle Untersuchungen aus der Pandemie-Zeit mit erzwungenem Fern- und Onlineunterricht. Die Studie von Engzell et.al. belegt, dass selbst Schülerinnen und Schüler von technisch sehr gut ausgestatteten niederländischen Schulen, die den Einsatz von Digitaltechnik gewohnt sind, durch Fernunterricht Lerndefizite entwickeln, die der Zeit der Schulschließung entsprechen. Sind es Kinder aus bildungsfernen Familien, evtl. mit Migrationshintergrund, sind die Lernrückstände noch deutlich größer. (Maldonado et.al.) Eine Frankfurter Forschergruppe formulieren griffig (und sicher auch mit Blick auf eine Presseverwertung): Distanzunterricht ist so effektiv wie Sommerferien (Hammerzell et.al.,2021) Die Studien von Andresen (Jugend und Corona) oder Ravens-Sieberer (CoPsy I + II) zeigen die gravierenden Folgen für sowohl die körperliche wie psychische Entwicklung durch die erzwungene soziale Isolation. Gleiches gilt für Studierende, hier sind es Ängste, psychische Störungen, Studienabbrüche. (DZHW 2021)

Präsenzunterricht als Normalfall

Wir stehen vor grundlegenden Entscheidungen. Welche Form von Unterricht, Lehre und Bildung wollen wir? Verstehen wir es weiterhin als Aufgabe der Pädagogik„Verstehen zu lehren“? (Gruschka, 2011) Oder bestimmen Parameter der produzierenden Industrie (Produktion von Humankapital mit validierten Ergebnissen) und der Daten-Ökonomie das Lehren und Lernen? Ist die automatisierte Messbarkeit von Lernleistungen das Ziel oder haben Bildungseinrichtungen einen übergeordneten Auftrag für Allgemeinbildung und Persönlichkeitsentwicklung, der sich nicht utilitaristisch auf Ausbildung verkürzen lässt? Bleiben Lehranstalten soziale Orte und Schutzraum für Präsenzunterricht und das Lernen in Sozialgemeinschaften? Wird Lehren und Lernen verstanden als soziale Interaktionen auf Basis von wechselseitiger Beziehung, Bindung und Vertrauen zwischen Menschen? Oder etablieren wir einen zunehmend „autonom“ agierenden Maschinenpark zum Beschulen und Testen der nächsten Generation?

Zum Denken lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So jedenfalls Immanuel Kant im Text „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen könnten. Carlo Ratti (MIT) berichtet von einem Experiment in Corona-Zeiten, als Update einer Studie des Soziologe Mark Granovetter von 1973 über „starke Bindungen“ (enge Beziehungen) und „schwache Bindungen“ (zufällige Bekanntschaften). Digitale Kommunikation funktioniere nur in der eigenen Gruppe gut, so Ratti im Preview. Für Kreativität und Innovation seien aber zufällige Begegnungen in der Mensa, auf dem Campus oder Bus entscheidend. Dort würden andere Fragen gestellt, neue Perspektiven eröffnet. Die Quintessenz: Ob Schule oder Hochschule – wir brauchen echte Begegnungen. Lernen ist ein individueller und sozialer Prozess, der nicht digital kompensiert werden kann, wenn Verstehen das Ziel ist, nicht nur Repetition. Medien und Medientechnik können Lernprozesse unterstützen, aber wir lernen durch Dialog und Diskurs. (Lankau 2020b)

Technische Medien sind mögliche, keine notwendigen Hilfsmittel für Bildungsprozesse. Jochen Krautz hat in seiner Schrift „Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Schule“ (Krautz, 2020) die grundlegenden, pädagogischen Prämissen für IT im Kontext von Unterricht formuliert. In der Flugschrift „Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht“ (Lankau, 2020a) wird bis auf Hard- und Software-Ebene skizziert, wie man Digitaltechnik einsetzt, ohne Nutzerdaten zu generieren. Der Untertitel präzisiert die Funktion von sinnvoller Medien(technik) in Lehr- und Lernprozessen: „Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen.“ Denn es ist nicht die Technik an sich, die zu Fehlentwicklungen führt, sondern der Missbrauch für Partikularinteressen der Datenwirtschaft und Plattformökonomie und deren Geschäftsmodelle.

Das heißt: Der Einsatz von Digitaltechnik muss überdacht werden im Hinblick auf die Frage, was der „Normalfall Unterricht“ sein soll? Bleiben Bildungseinrichtung Lernorte für das Individuum oder werden es Lernfabriken für die zunehmend algorithmisierte Steuerung von Menschen mit dem Ziel des messbaren Kompetenzerwerbs, samt absehbarer Konsequenzen für das Individuum wie die Gemeinschaft. Das ist ja eine der Lehren aus Corona: Präsenz ist nicht zu ersetzen, in keiner Schulform und in keinem Lebensalter. Ob wir dabei analoge und/oder digitale Medien als Ergänzung zum Unterricht einsetzen bleibt nachgeordnet. Das ist auch Thema der Fachtagung „Bildung und Digitalisierung: Lehren aus der Pandemie“ im Mai 202 in Offenburg. Denn es sollte zu denken geben, was der israelische Historiker Harari zu Covid-19 im Interview formulierte:

„In 50 Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an die Epidemie selbst erinnern. Stattdessen werden sie sagen: Dies war der Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde. (…) Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.“(Lüpke, Harms, 2020)

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