Veröffentlicht am 12.11.19

Beobachten, Bewerten, Überwachen

Learning Analytics, das Sammeln und Analysieren von großen Datenmengen der Lernenden, sorge für „neue Selektivität“ und betone „Ungleichheit“. Davor warnte Privatdozentin Sigrid Hartong bei einem Expertengespräch des GEW-Hauptvorstandes.

Beitrag von Matthias Holland-Letz in: Erziehung und Wissenschaft (E&W) Heft 11/2019, S. 32-33

Die Lehrerin installiert eine App auf ihrem Smartphone. „Damit kann sie das Verhalten ihrer Schüler mit Punkten bewerten, in Echtzeit“, erläutert Privatdozentin Sigrid Hartong. „Die vergebenen Punkte werden in der App mit den Eltern geteilt.“ Mütter und Väter könnten also beobachten, wie sich ihr Kind im Unterricht verhält. „Was heißt das, wenn ich dieses Tool zwischen die Kommunikation mit den Schülern schiebe, zwischen Eltern und Kindern?“. Verbessere sich das Klassenklima, die Disziplin? Besagte App, sie heißt ClassDojo (siehe Links), werde in den USA bereits an 95 Prozent der Schulen eingesetzt. Das erklärt die Erziehungswissenschaftlerin, die an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg forscht. Sie referiert auf Einladung des GEW-Hauptvorstandes in Fulda über „Learning Analytics. Künstliche Intelligenz und Big Data in der Bildung“.

Ziel von Learning Analytics sei, das Lernen und die Lernumgebung zu optimieren, erläutert die Hochschullehrerin. Dazu nutze Learning Analytics Algorithmen, also Computerprogramme. Vertreten werde die Idee, digitale Technologie nehme Arbeit ab, spare Zeit und ermögliche, „Lernmaterialien individueller zu verteilen“. Zudem gelte sie als „neutral“ – was bei Sigrid Hartong auf Widerspruch stößt: „In jedem digitalen Lerntool, in jeder App, in jeder Schulverwaltungssoftware steckt eine bestimmte Modellierung der Realität.“ Das heißt: Wer programmiert, legt eine Menge Dinge fest. Beispiele laut Hartong: „Wann wird eine Aufgabe als schwer oder leicht eingestuft?“. Oder: „Sorge ich dafür, dass ein Lernprogramm einem Mädchen etwas anderes zeigt als einem Jungen?“. Oder „Gewichte ich etwas mit dem Faktor 2 oder mit dem Faktor 5?“. Die Hamburger Wissenschaftlerin betont: „Politische Einflüsse, Einflüsse von Kultur, von Sprache, welche Werte man wichtig findet – all das fließt mit ein.“ Dateninfrastrukturen seien „hochkomplexe, wertebehaftete Apparate“.

Festgelegt sei zudem, wie Learning Analytics die analysierten Daten auf dem Bildschirm darstelle. Eine „eindeutige Story“ werde präsentiert, verbunden mit „Handlungsaufforderungen“, der sich Nutzerinnen und Nutzer kaum entziehen könnten. „Würden Sie als Lehrkraft, die vielleicht noch unter Beobachtung der Schulleitung steht, einen roten Balken oder ein blinkendes rotes Ampellicht ignorieren?“, fragt die Erziehungswissenschaftlerin. „Ich glaube nicht.“ Das Programm habe die „mühselige Interpretation der Daten für Sie schon erledigt“. Wo bleibe „das emanzipatorische Element, von dem überall geredet wird?“.

Sigrid Hartong warnt: Learning Analytics sorge für „neue Selektivität“ und betone „Ungleichheit“. Digitale Tools legten mitunter fest: „Welche Kinder, welche Lehrer, welche Schulen sind besonders risikobehaftet?“. Und: „Sie sind das, so werden sie einer noch intensiveren Beobachtung unterzogen.“ Die Entwickler seien bestrebt, „immer mehr Bereiche“ zu erfassen, auch das Sozialverhalten oder den emotional-körperlichen Bereich von Lernenden. „Beinah alles wird debattiert: Das Auslesen von Gesichtsausdrücken, die Emotion in der Stimme, Körperhaltung, die Art und Weise, wie sie schreiben – bis hin zum Auslesen der DNA“. Und: Die Ausbreitung von Learning Analytics erfolge weltweit „in unglaublichem Tempo“. Diese Entwicklung stößt laut Hartong allerdings auf Argwohn, gerade bei High-Tech-Fachleuten. Sie berichtet, „dass Elterngruppen aus dem Silicon Valley, die Betreiber der großen Digitalfirmen, ihre Kinder eher nicht in solche Schule schicken“. Sondern in Privatschulen, „damit sie noch von Lehrern mit Gesicht beschult werden“.

Die Wissenschaftlerin erklärt, dass hierzulande auch Stiftungen und Verbände den Einsatz digitaler Tools propagierten. Etwa der gemeinnützige Verein Bündnis für Bildung e.V. (siehe Link). Diese Akteure behaupteten, sie seien „neutral“. Richtig sei: Sie empfehlen zwar nicht einzelne Produkte. „Aber sie sagen, nimm ein Produkt.“ Um Kritik abperlen zu lassen, argumentierten diese Player „mit Partizipation und demokratischer Teilhabe“. Es lohne sich, zu untersuchen, wer hier mit wem diskutiere. „Wer mitreden darf und wer nicht.“ Hartong betont: „Dann verstehen Sie, wie selektiv diese Diskurse sind.“

Weiterer Punkt: Behörden beginnen, Bildungsdaten mit Daten aus anderen Quellen zu verbinden. In Deutschland sei es gang und gäbe, das Meldewesen „mit Schulverwaltungssystemen zusammenführen“. Auch Gesundheitsdaten, Daten aus der Justiz oder aus der Sozialarbeit könnten in Zukunft miteinfließen. Die Hochschullehrerin nannte ein Beispiel aus England. Betroffen seien „Kinder, bei denen ein erhöhtes Risiko einer kriminellen Gang-Mitgliedschaft behauptet wird“. Ihnen werde eine Software auf PC und Handy aufgespielt. Eine Software, „die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche schaut, wohin sind sie unterwegs, mit wem treffen sie sich und so weiter“. Sigrid Hartong sieht eine Ausweitung der Datenerhebungen „in Richtung frühkindlicher Bereich“ – mit dem Ziel, „früh präventiv eingreifen zu können“.

Ilka Hoffmann, GEW-Vorstandsmitglied Schule, verweist auf möglichen „Missbrauch der Daten“. Aus pädagogischer Sicht bestehe die Gefahr, dass man „in ein „Richtig-Falsch-Schema zurückfällt“ – anstatt zu fragen, wie kommen Kinder zu ihren Lösungen. Ansgar Klinger, GEW-Vorstandsmitglied Berufliche Bildung und Weiterbildung, fordert: „Vor der Einführung digitaler Technik brauchen wir pädagogische Konzepte.“ Nötig sei eine „politische Technikfolgenabschätzung“. Und: „Wir brauchen Räume, in denen ein unbeobachtetes Lernen und Arbeiten möglich ist.“

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