Veröffentlicht am 20.06.17

Begriffliche Unschärfe im bildungspolitischen Diskurs

Das Beispiel Demokratiekompetenz

Gastbeitrag von Dr. Burkard Chwalek, Bingen

Verfolgt man aktuelle bildungspolitische Diskussionen, begegnet man an vielen Stellen einer geradezu verstörenden Unschärfe in der Verwendung zentraler und für grundlegende Entscheidungen im Schul- und Bildungswesen konstitutiver Begriffe bzw. Konzeptionen. Befremden weckt dabei insbesondere die vielfach zu beobachtende, fehlende Übereinstimmung des mit solchen Begriffen tatsächlich Gemeinten und den damit explizit formulierten Intentionen. So rekurrieren etwa Junkturen wie „selbstbestimmtes Lernen“ oder „individuelle Förderung“ sprachlich auf anerkannte Ideale der Aufklärung: die freie Entfaltung der Persönlichkeit oder auch die Erziehung zur Mündigkeit. Genaueres Hinsehen offenbart indes schnell: Formen der sogenannten neuen Lernkultur, die der Umsetzung selbstbestimmten Lernens dienen sollen, sind gerade wenig geeignet, Schülerinnen und Schüler zur Selbstbestimmung zu befähigen, sie konstruieren diese vielmehr als Lernerinnen und Lerner behavioristisch im Sinne eines kybernetischen Regelkreislaufs, geben sie somit der Fremdsteuerung anheim und machen sie zu außengesteuerten Objekten. (1) Nicht weniger verkehrt sich die vollmundige Verheißung der „digitalen Bildungsrevolution“, im Dienste individueller Förderung zu agieren, selbst in ihr Gegenteil, wenn mittels Algorithmen und Software, die das Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern speichern, analysieren und (manipulierend) lenken, Lernende auf kleinschrittige Anpassungsleistungen an computergesteuerte Programme zugerichtet werden.

Michel Foucault hat, ohne um die Möglichkeiten digitaler Beobachtung wissen zu können, in substantiellen und bis heute beachtenswerten Analysen die freiheitsfeindlichen Folgen solcher Verfahren panoptistischen Zuschnitts aufgewiesen – für die Gesellschaft insgesamt wie für den Einzelnen, der dadurch zum „Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ wird, Machtmittel internalisierend, denen er preisgegeben ist. (2) Künftigen Forschungen (z. B. Politologie, Soziologie, Philosophie, Erziehungswissenschaften) wird es vorbehalten bleiben, die Bedingungen zu rekonstruieren, unter denen sich in einem demokratisch legitimierten Bildungswesen derartige Mechanismen formieren und etablieren konnten. Vorsichtig sei die Vermutung geäußert, dass dieser Vorgang zumindest auch geschickter rhetorischer Strategie geschuldet ist.

Es ist nun ausgerechnet die Begriffsverbindung „Demokratiekompetenz“, der derselbe schneidende Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit innewohnt, zwischen dem Anspruch auf Vermittlung der Fähig- und Fertigkeiten, verantwortungsvoll als mündiger Bürger und mündige Bürgerin am demokratisch verfassten Gemeinwesen teilzunehmen, und der ihr immanenten Anfälligkeit gegenüber demokratiefeindlichen Zügen. Dieser Problematik nachzugehen, verdient schon deshalb große Aufmerksamkeit, weil die Umsteuerung des Bildungswesens hin zur Kompetenzbasierung zumindest administrativ inzwischen vollzogen ist. Entsprechend sind im neuen rheinland-pfälzischen Lehrplan für die gesellschaftlichen Fächer alle Einzelausführungen von der übergeordneten Kategorie der Demokratiekompetenz hergeleitet. Um den Sachverhalt zu verdeutlichen, muss an einige Implikationen der Kategorie „Kompetenz“ erinnert werden.

Den Kernbestand des Kompetenzdenkens bilden einige konstitutive Merkmale, von denen man nicht absehen kann, ohne den Kompetenzansatz als ganzen aufzuheben. Zunächst postuliert Kompetenzorientierung grundsätzlich den Primat eines wollenden vor einem erkennenden Weltverhalten, so dass in der Begegnung mit ihr nicht vorrangig nach dem gefragt wird, was etwas von sich selbst her bedeutet, worin seine ihm eigentümliche und zu achtende Dignität besteht. Sachverhalte, Prozesse, Probleme, Menschen – sie alle drohen dem Interesse, dem sie gelten, subordiniert zu werden. Dem korrespondiert der zwingend geforderte Anwendungsbezug, der alle “Gegenstände“ des Lernens unter dem Gesichtspunkt ihrer effizienten Nutzung und des Vorteils, den sie versprechen, betrachtet. Zudem ist mit dem Kompetenzansatz untrennbar die Kontrolle der Lernaktivitäten und die standardisierte Messbarkeit ihrer Ergebnisse (Output) verbunden.

Ein Denken, das in erster Linie die Außenwelt unter dem Aspekt ihrer Verwertbarkeit in den Blick nimmt, ist für sich schon sperrig zum Demokratieauftrag von Schule und den Anforderungen einer auf Solidarität beruhenden Gesellschaft; zusätzlich wird die hier diskutierte Problematik dadurch verschärft, dass Kompetenzen immer auch – um Weinerts klassisch gewordene Definition herbei zu nehmen – auf motivationale, volitionale und soziale Bereitschaften zielen. Dies bedeutet nichts anderes als die Hybris und zugleich grandiose Fehleinschätzung, Haltungen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern zur Demokratie der messenden Überprüfbarkeit zugänglich zu machen, die bislang mit guten Gründen der steuernden Außenlenkung entzogen waren. Volker Ladenthin hat diesen Verfügungsanspruch über das freie Wollen und die Selbstbestimmung eines (jungen) Menschen in einer glänzenden Untersuchung zu Recht als „die bisher ausgeprägteste Form einer Theorie der Fremdsteuerung“ erwiesen. (3) Das abverlangte und der (standardisierten) Testung überantwortete Bekenntnis zur als richtig eingeforderten Haltung und Einstellung ist mit den Werten der Demokratie und Solidarität nicht kompatibel.

Schon Theodor W. Adorno hat – der Sache nach – das Kompetenzdenken als „eine Schwäche zur Zeit“ entlarvt, als ein Denken, das sich alles Mittelbare unmittelbar machen will mit der unausweichlichen Tendenz zur Personalisierung politischer Verhältnisse. Das sei allen Apologeten einer Kompetenz- und Outputorientierung des Unterrichts ins Stammbuch geschrieben, wenn man allenthalben eine Anfälligkeit für schnelle und einfache Lösungen beklagt. Ohne die Anstrengung, die um das Erkennen des Mittelbaren, also der zunächst auch fremden Inhalte, sich müht und ringt, ist Demokratie ein in hohem Maße gefährdetes Gut.

1) Vgl. hierzu die grundlegenden Analysen von Matthias Burchardt: Wir machen alles alleine. Die Krise des selbstgesteuerten Lernens (Abruf 28.12.2016).
2) Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 152015 (Zitat 260).
3) Vgl. Volker Ladenthin: Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit. In: Profil, Mitgliederzeitschrift des deutschen Philologenverbandes 9 / 2011, 1-6 (Zitat 3).