Veröffentlicht am 08.01.24

Finnlands Pisa-Absturz als Weckruf für die Schweizer Bildungspolitik

Finnlands Schulen waren Vorbild. Scharenweise wallfahrteten Bildungsexperten in den Norden. Doch das Prestige der Vorzeignation ist eingebrochen, der Trend zeigt nach unten. Die Schweiz müsste davon lernen. Doch die Verantwortlichen beschönigen.

Carl Bossard*

«Kann man finnische Schulen kaufen?» So soll ein Bildungsexperte aus dem Nahen Osten gefragt haben. Auch er pilgerte nach der ersten PISA-Studie ins verheissene Land der weltbesten Schulen – mit einer Copy-and-Paste-Absicht. Möglich machten solche Bildungsfahrten die PISA-Rankings. Das „Programme for International Student Assessment“ (PISA) vergleicht das Können 15-jähriger Schüler in den Fächern Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Anhand einer Punkteskala werden die Ergebnisse erfasst und in Kompetenzstufen aufgegliedert.

Diskrepanz zwischen dem Vorausgesagten und dem real Erlebten
Die erste weltweite Bildungsstudie im Jahr 2000 sah Finnland auf einem globalen Spitzenplatz. Wie seine Langläufer erreichten auch die Schüler Weltruhm. Die finnischen PISA-Erfolge weckten schnell das internationale Interesse. Der Bildungstourismus boomte. Auch mich zog Finnlands Mythos wie ein Magnet an. Ich reiste ins Mekka des Bildungserfolges. Doch im hohen Norden erlebte ich nicht, was ich in der Schweiz gehört hatte, und ich sah nicht, was Bildungsfachleute predigten und postulierten: Lehrer, die sich als Lerncoachs verstehen und nicht anleiten, Lehrerinnen, die Gruppenarbeiten moderieren und nicht unterrichten, Lehrkräfte, die selbstorientiertes Lernen (SOL) organisieren und nicht kollektiv ins Thema einführen. Keine Spur von Lernen ohne Lehrer (LOL), kein Anzeichen von individualisiertem Unterricht, kein selbstreguliertes Lernen mit Wochenplänen.

In allen besuchten Schulen erlebte ich das pure Gegenteil, nämlich einen geleiteten und gemeinsamen Unterricht im Klassenverband – strukturiert und in kleine Teile portioniert, mit Rückfragen und Diskursteilen aufgelockert, aber stringent geführt. Daran schlossen sich gemeinsame Übungsteile an – mit präzisen Aufgaben und lernförderlichen Feedbacks. Assistentinnen unterstützten die Kinder und trainierten mit ihnen. Entspannt im Ton, intensiv im Tun: Abwechslung ohne Zerstreuung. Kein Schüler, keine Schülerin war sich selbst überlassen.

Spürbarer Wirkwert der «direct instruction»
Ob darin Finnlands Geheimnis liegt und seinen Spitzenrang erklärt? Das fragte ich mich auf dem Rückweg von der Pilgerstätte. Als aufmerksamer Beobachter entdeckte ich vieles von dem, was der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in seiner Studie „Visible Learning – Lernen sichtbar machen“ von 2009 als lernwirksam definiert: einen geführten und strukturierten Unterricht – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Hattie spricht von «direct instruction».

Viele Bildungsexperten disqualifizieren diese Form als altmodischen Frontalunterricht und verwerfen sie. Doch sie ist lernwirksam. Das zeigen empirische Studien. Franz E. Weinert, Kronzeuge für den Lehrplan 21 und Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung, hält lapidar fest: «Zum Entsetzen vieler Reformpädagogen erwies sich in den meisten seriösen Studien eine Lehrform als überdurchschnittlich effektiv, die […] als ‘Direkte Instruktion’ bezeichnet wird. Sie verbessert die Leistungen fast aller Schüler.»

Finnlands Schulleistung als «sehr besorgniserregend»
Doch das finnische Bildungswunder ist nicht von langer Dauer. Zwischen 2003 und 2012 verliert das Land insgesamt 25 PISA-Punkte; das entspricht dem Lernerfolg eines ganzen Schuljahres. In den internationalen Studien sinken die finnischen Lernleistungen weiter. Die Ergebnisse von 2022 taxiert Finnlands Bildungsminister gar als «sehr besorgniserregend». Dabei liegt das ehemalige Bildungsparadies in den Naturwissenschaften und im Lesen noch vor der Schweiz.

Warum dieser Erfolg? Warum dieser Absturz? Manche Lernforscher erklären Finnlands Bildungswunder mit dem alten Schulsystem: starke Lehrerpersönlichkeiten, die Einfluss nehmen und führen, ein geleiteter und klar strukturierter Unterricht, eine eher traditionelle Methodik. Mitte der 1990er-Jahre ändert das Land sein Credo. Stabsleute lösen die praxiserfahrenen Schulinspektoren ab.

Der Absturz beginnt parallel zum Wirken der Reformen
Das Bildungssystem setzt nun auf Pädagogen, welche die Rolle des Lerncoachs übernehmen und als «Lehrkoordinatoren» den Fokus auf das einzelne Kind und sein selbstgesteuertes Lernen legen statt auf die Klasse. Gleichzeitig werden die Lehrpläne umgestellt: Sie sind nicht mehr inhalts- und zielbezogen, sondern einseitig kompetenzorientiert formuliert. Ab 2012 greifen die Reformen. Dazu braucht es zehn bis fünfzehn Jahre, sagt die Bildungsforschung. Entsprechend schwächer schneidet Finnland in den Tests ab. Die PISA-Noten werden genau dort schlechter, wo die Reformen zu wirken beginnen.

Finnlands Fehler führen zum Trend nach unten. Daraus lässt sich lernen. Auch die Schweiz ist bei den Reformen den gleichen Weg gegangen. Eine verantwortungsvolle Bildungspolitik müsste Gegensteuer geben und nicht beschönigen. Bildungsverlierer sind immer die lernschwächeren Kinder.

*Der Beitrag ist in der NZZ am Sonntag vom 07. Jan. 2024 erschienen