Veröffentlicht am 31.10.17

Buch: Bildung als Provokation

 

Vorwort

Warum es so unangenehm ist, gebildeten Menschen zu begegnen

Wer den aktuellen Bildungsdiskurs verfolgt, kann eine interessante Beobachtung machen. Die Karriere des Begriffs „Bildung“ ist atemberaubend. „Bildung“ ersetzt mittlerweile nicht nur Konzepte wie Pädagogik, Erziehung oder Unterricht, „Bildung“ beschreibt nicht nur den Umgang mit Menschen von der Beschallung des Ungeborenen im Mutterleib über die Integration von Migranten bis zur Einweisung von Senioren in den Gebrauch des Internet, sondern „Bildung“ kann mittlerweile als wohlfeiler Joker überall dort eingesetzt werden, wo andere Institutionen oder Praktiken versagen. Wer Bildung sagt, hat immer Recht.

Während „Bildung“ als universelles Problemlösungsversprechen omnipräsent geworden ist, ist der „Gebildete“, den wir ja eigentlich als Ziel all dieser Bildungsanstrengungen vermuten müssten, aus dem Wortschatz nahezu verschwunden. Nicht einmal mehr am Horizont der Bildungsplanung und der Bildungsbiographien, die nun untersucht und beschrieben werden, taucht der Gebildete auf, und wir wüssten auch nicht, an welcher Stelle der offiziellen Bildungskarrieren er in Erscheinung treten sollte. Die Absolvierung der Schulpflicht, eine moderne kompetenzorientierte Reifeprüfung, ein abgeschlossenes Bachelorstudium nach dem Bologna-Modell – nichts davon enthält den „Gebildeten“ als Ziel- oder Leitvorstellung. Weder sollen sich Menschen bilden noch sollen sie gebildet werden, gefordert ist heute der Erwerb von „Kompetenzen“ wie Teamfähigkeit, Kommunikationsbereitschaft, Innovationsfreude und digitale Fitness.

Niemand wird bezweifeln, dass sich Menschen für unterschiedliche Tätigkeiten qualifizieren, dass sie vielfältige Fähigkeiten aufweisen und dass sie die aktuellen Kulturtechniken beherrschen sollen. Aber keine dieser Beschreibungen erfasst das, was man einmal mit Bildung vermeint hatte. Gesetzt den Fall, dass uns der in einem klassischen Sinne Gebildete tatsächlich noch einmal begegnete, wären wir wahrscheinlich ziemlich irritiert. Der Gebildete verkörperte all das, was der aktuelle Bildungsdiskurs gerade nicht mehr unter Bildung verstehen will. Dazu gehörten ein fundiertes Wissen, das es erlaubt, auch ohne Zensurbehörde die Fakten von den Fiktionen zu trennen, ästhetische und literarische Kenntnisse und Erfahrungen, ein differenziertes historisches und sprachliches Bewusstsein, ein kritisches Verhältnis zu sich selbst, eine auf all dem gründende abwägende Urteilskraft, und eine gesteigerte Sensibilität gegenüber den Lügen, Übertreibungen, Hypes, Phrasen, Moralisierungen und Plattitüden der Gegenwart. Allerdings: Nichts von dem ließe sich vorschnell der Forderung nach Nützlichkeit, Anwendbarkeit und schneller Verwertbarkeit unterordnen.

Der Gebildete wäre heute eine eigentümliche Erscheinung: Wie aus der Zeit gefallen. Weltfremd wäre der Gebildete aber nicht. Bildung stellte auch eine Form der Welthaltigkeit dar, die sich jedoch nicht nur aus den Blasen der sozialen Netzwerke, sondern auch aus anderen Quellen speist, zu denen nicht zuletzt jene Bücher gehören, deren Lektüre wir niemandem mehr zumuten wollen. Begegnete man solch einem Menschen, wir wären wahrscheinlich unangenehm berührt, vielleicht von Neid erfüllt, unter Umständen sogar ein wenig beschämt, weil er unser aktuelles Bildungsweltbild in Frage stellte.

Bildung, ernst gemeint, wäre heute eine Provokation. Ob die grassierende Kompetenzorientierungskompetenz wirklich die zeitgemäße Antwort auf diese Provokation darstellt, darf allerdings bezweifelt werden. Bildung, das macht ihren Stachel aus, lässt sich nicht auf formale Fähigkeiten und Anwendungsorientierungen reduzieren. Bildung hat immer auch mit konkreten Inhalten und – horribile dictu – abstraktem Wissen zu tun, damit auch mit Einsichten und Haltungen, die ihren Wert vorab in sich tragen und es den Menschen erlauben, zu sich und der Welt in einer Weise Stellung zu beziehen, die nicht nur dem Diktat der Zeit und ihrer Moden gehorcht.

Bei aller Kritik an den bildungsfeindlichen Bildungsreformen unserer Tage gibt es keinen Grund zu verzweifeln. Gerade die Schnelllebigkeit und Beliebigkeit der aktuellen Medienkultur lässt die Sehnsucht nach fundiertem Wissen, kritischer Reflexion, nach Begegnungen mit der eigenen Tradition und mit fremden Kulturen und nach einer geschärften Urteilskraft wachsen. Bildung hat auch mit dem Einüben einer Gelassenheit zu tun, die sich von überbordender Affirmation des Zeitgeistes ebenso frei halten möchte wie von einer wohlfeilen Empörung über medial hochgespielte Nichtigkeiten.

Bildung ist untrennbar mit der Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit verbunden, mit dem Wissen des Nichtwissens. Diese Bescheidenheit macht sie erst zu jener Aufgabe und Haltung, die sich offen dem Anderen und seinen vielfältigen Erscheinungsformen zuwenden kann: Ohne falsche und überzogene Ansprüche, aber auch ohne den Gestus einer moralischen oder intellektuellen Überlegenheit und ohne den Dünkel eines selbstgefälligen Elitenbewusstseins, das mittlerweile selbst zu einem Signum der Unbildung geworden ist.

 

Wien, im Mai 2017                    Konrad Paul Liessmann

 

Das Vorwort als PDF: Vorwort_Bildung_als_Provokation_Liessmann