Veröffentlicht am 17.06.24

Zukunft der Schule: Respekt, Ruhe und Regeln – genügt das?

In einer Gesellschaft, die nach Orientierung und Halt sucht, ist der Ruf nach neuer Autorität in der Schule laut geworden. Doch das Autoritäre der alten Autorität kann es nicht sein. Der Pädagoge Carl Bossard plädiert im Interview mit Stephan Leimgruber für Leadership mit Glaubwürdigkeit im Dialog.

In: Sonntag | Doppelpunkt | Ferment , NR. 24, 12. Juni 2024, S. 18-19.

Carl Bossard, wie ergibt sich Autorität?

Vermutlich ist Autorität eine Beziehungsleistung. Ein kleines Beispiel dafür: Wenn ich ein Kind frage: Woher weisst du das?, dann sagt es vielleicht spontan: Mama hat es mir gesagt. Die Mutter ist für das Kind eine Autorität – aus einer Beziehung heraus. Das Kind erkennt die Werte seiner Mutter an. Und genauso ist es bei einer Autoritätsperson. Man bejaht deren Werte. Eine Autoritätsbeziehung ist ein reziprokes Geschehen, ein wechselseitiges Verhältnis. Vertrauen und damit auch Autorität werden einem zugeschrieben – oder eben nicht. Genau wie Glaubwürdigkeit. Beides setzt Format voraus und ist nicht erzwingbar.

Eine glaubwürdige Autorität war beispielsweise Bruder Klaus. Auf ihn hörte man; ihm vertraute man. Was lässt sich für die Erziehung heute von ihm ableiten?

Es gibt eine formale, hierarchische Autorität, die einem übertragen wird und sich aus der Funktion ergibt. Doch formale Autorität bedeutet noch lange nicht personale Autorität. Bruder Klaus verkörperte eine gute Autorität – man glaubte und vertraute ihm aufgrund seiner Person.

Der Begriff Autorität hat es heute schwer.

Er ist nicht selten negativ besetzt und darum so etwas wie ein Anwärter auf die Rolle des Generalbösewichts. Viele haben unter Autoritäten gelitten – unter Vorgesetzten, die durch ihre Amtsautorität negativ wirkten. Doch wer aufgrund seiner institutionellen Position autoritär auftritt, verliert seine Autorität. Echte Autorität und autoritäres Gebaren schliessen sich aus.

Warum ertönt heute der Ruf nach einer neuen Autorität in der Schule?

Erklärbar ist das nur, weil die personale Autorität – sie galt lange und vielerorts als selbstverständlich – zur Seite geschoben wurde. Lehrerbildung war einst Persönlichkeitsbildung. Doch das Wort Lehrerpersönlichkeit darf man der Political Correctness wegen gar nicht mehr in den Mund nehmen. Es wird tabuisiert. Die aktuelle Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen hin zur Individualisierung vernachlässigt das konsequente Führen einer Klasse. Angehende Lehrer würden heute nicht mehr primär Klassen führen, heisst es. Die Lehrperson sei Coach, und in der Funktion als Partnerin oder Beraterin begleite sie die Lernenden. Der gemeinsame Unterricht sei tendenziell out, die Klassenführung darum sekundär geworden. Das Wort führen hat ohnehin einen schalen Beigeschmack. Es ist durch die deutsche Geschichte verschmutzt.

Das selbstgesteuerte Lernen steht heute stark im Vordergrund. Braucht es da noch Führung?

Führen, so hart dieses Wort für viele klingen mag, ist nicht antiquiert oder gar überlebt. Im pädagogischen Bereich – und dieser Grundsatz gilt wohl überall – kommt es nicht nur auf das Was an, sondern ebenso und vielleicht sogar noch stärker auf das Wie. Es ist entscheidend, wie ich es tue, wie ich es sage, wie ich etwas verlange oder vorlebe. Das gilt auch für das Führen. Führen hat viel mit Fürsorge zu tun. Wenn ich klar und konsequent führe, spürt das Kind, dass ich mich für sein Lernen und sein Vorwärtskommen interessiere. Es spürt, dass ich an seinen Fortschritt glaube und ihm das zutraue. Klarheit tut Kindern gut.

Also braucht es eine Wiederbelebung der engagierten Führung?

Der Neurobiologe und Arzt Joachim Bauer betont, Kinder und Jugendliche würden beides wollen – Verständnis und Führung. Das seien unerlässliche Tragpfeiler eines respektvollen und effizienten Unterrichts. Anders formuliert: Kinder wollen einen fairen Häuptling; sie wünschen sich eine empathische Dirigentin. Kinder suchen einen Leader. In der amerikanischen Pädagogischen Psychologie heisst es darum pragmatisch: Lehrer führen das Lernen und die Lernenden. Wer dieses elementare Handwerkszeug in der Grundbildung gelernt hat, braucht keine neue Autorität. Man ruft nur danach, weil man Grundlegendes lange negiert oder schlicht vergessen hat.

Was wäre an der neuen Autorität denn neu?

Wenig, mindestens für die Schule – trotz des verheissungsvollen Namens. Was sie fordert, ist längst Inhalt der empirischen Unterrichtsforschung, der Hirnbiologie und der Resonanzpädagogik. An die Stelle einer Autorität durch Macht trete eine neue, innere Autorität durch Beziehungsarbeit, heisst es. Damit grenzt sie sich ab gegenüber einer überholten Autorität und von autoritären Personen.

Es geht also um Leadership im Dialog – wie bei Bruder Klaus.

Wenn echte Autorität eine Beziehungsleistung zwischen einer vorgesetzten Person und einem Visavis ist – wie ich überzeugt bin –, dann gehört der Dialog zwingend zu einem vertrauensfördernden Verhalten. Das wissen wir seit Sokrates, seit den alten Griechen. Für sie war der sogenannte sokratische Dialog so wichtig: das Inspiriert-Werden über das Gespräch, über ein wirksames Feedback. Das führt zum Denken als innerem Dialog zwischen mir und mir selber. Das wäre heute zu stärken.

In: Sonntag | Doppelpunkt | Ferment , NR. 24, 12. Juni 2024, S. 18-19.