Veröffentlicht am 02.04.12

„Schule – Lehranstalt oder Bildungslandschaft?“

Zwei Jahre nach Erscheinen der ersten PISA-Studie schrieb der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers in der Wochenzeitung DIE ZEIT, man könne in der neuen bildungspolitischen Ära nach diesen Vergleichsstudien auf den Anspruch verzichten, in der Schule Bildung zu vermitteln: Die Schule sei keine Bildungs- sondern eine Lehranstalt zur Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten. Der Titel seines Beitrages lautete: „Und wo, bitte, bleibt Humboldt? Der Pisa-Studie wird vorgeworfen, sie messe keine Bildung – Das stimmt. Doch Schule ist keine Bildungs- sondern eine Lehranstalt“.[1]

Andererseits hören wir aus der Kultusbürokratie wie von einigen Erziehungswissenschaftlern, dass sich der schulische Unterricht an bestimmten „Bildungsstandards“ orientieren soll – was nur möglich ist, wenn sich dort Bildung tatsächlich ereignet.[2] Wer hat Recht?

Offensichtlich hängt die Beantwortung dieser Frage davon ab, was man sich unter Bildung vorstellt. Wie mir scheint, gibt es mindestens vier Wege, sich einen umfassenden und anschaulichen Begriff von Bildung zu erarbeiten: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Bildungsbegriffs, die Analyse der Botschaften, die in sogenannten Bildungsromanen zu finden sind, die Auswertung biographischer Berichte über wichtige Bildungserfahrungen bzw. -erlebnisse und eine exemplarische Analyse verschiedener symptomatischer Definitionen des Begriffs. Dabei zeigt sich, dass man zunehmend in eine Art Wanderschaft durch diese facettenreiche Landschaft verschiedenster Bildungsmotive gerät: Hier wird der authentische Begriff einer „Bildungslandschaft“ ersichtlich, eines geistigen, seelischen und auch körperlichen Orientierungsfeldes, das die Wanderer inspiriert, ohne im traditionellen Sinne definierbar zu sein.[3] Diese Bildungslandschaft ist strikt von der sogenannten „Lernlandschaft“ zu unterscheiden, von der heute vielfach die Rede ist: Sie bezeichnet ein räumlich und thematisch mehr oder minder umfangreiches gestaltetes Lernmilieu, während sich – wie ich gleich plausibel machen möchte – die Erfahrungen in der „Bildungslandschaft“ und somit auch die Bildung nicht didaktisch in Regie nehmen lassen. Wenn wir – hier die Spur verschiedener Definitionen von Bildung verfolgend – Aleida Assmanns lesenswerte Schrift zur Geschichte des Bildungsbegriffs konsultieren, werden wir aufmerksam gemacht auf die Opposition von Bildung und Ausbildung. Während Ausbildungen, so die Autorin, als Vielheit bestehen, lasse sich „Bildung“ nicht in den Plural setzen – sie trete vielmehr als Ergänzung und Korrektiv neben das gezielte Erwerben von Spezialwissen und Sachkompetenz. „Die Bildungsidee stellt den Kontrapost dar zur Tendenz wachsender Spezialisierung und Fragmentierung des Wissens. Sie erinnert daran, dass es nicht nur darauf ankommt, was man kann, was man weiß, sondern auch darauf, wer man ist. Wer über der Fachausbildung diese Dimension der Menschenbildung vernachlässigt oder ganz vergisst, galt früher als Banause, später als Fachidiot… Der Bildungsbegriff changiert zwischen utopischem Ideal und politischem Programm. Ihn als rein deskriptiven Begriff einer Sozialgeschichte einzusetzen heißt, die Innenbeleuchtung des Phänomens, die im Begriff selbst wirksame Energetik zu unterschätzen.“[4]

Aber diese der Bildungslandschaft immanente „Energetik“ kann nicht nur durch historisch-theoretische Analysen des Bildungsbegriffs erfahrbar werden; neben der lebensvollen Beschreibung von individuellen Bildungserfahrungen in Bildungsromanen (von Wielands Agathon oder Goethes Wilhelm Meister, von Moritz’ Anton Reiser bis hin zu interkulturell geprägten Gegenwartsromanen wie Buchi Emechetas Sklavenmädchen oder Sevgi Özdamars Die Brücke vom Goldenen Horn) sind es vor allem biographische Berichte, die uns die wirkliche Natur von Bildungsprozessen und die Falschheit der eingangs zitierten Positionen deutlich machen.

Ich habe Studierende für das Lehramt an Gymnasien im Rahmen von Universitätsseminaren häufiger gebeten, für ihre eigene Bildungsbiographie wichtige Schlüsselerlebnisse aufzuschreiben – „fruchtbare Momente“, die ihnen besondere Entwicklungsimpulse ermöglichten. Ein Student berichtete: „Ich saß im Physikunterricht und langweilte mich, wie üblich. Der Physiklehrer brach plötzlich seinen Unterricht ab und ging mit uns in ein ‚Spielcenter’. Dort spielten wir Billard und Dart. Er erklärte ganz selbstverständlich, ohne es wie einen Unterricht klingen zu lassen, die Naturgesetze. Dart: Erdanziehungskraft – Bogenmaß – kinetische und potentielle Energie; Billard: Energieerhaltungsgesetz und ‚Einfalls- gleich Ausfallswinkel’. Das interessierte mich so sehr, dass ich herausfinden wollte, wie viele ‚natürliche’ Sachen (Umgebung) ich mit der Naturwissenschaft erklären konnte.“  – Es ist bemerkenswert, dass hier nicht primär von Lernforschritten, von Kenntnissen und Fertigkeiten berichtet wird, sondern von der Erweckung eines allgemeinen Interesses, Ereignisse des Alltagslebens mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden zu verstehen. Das ist gewiss auch eine Bildungserfahrung.

Das Beispiel macht auf einige Umstände aufmerksam, die sowohl bei der Rede von „Bildungsstandards“ als auch beim Versuch, dem Unterricht Bildungsaufgaben abzusprechen, Beachtung verdienen. Wir wissen nicht, ob sich das beschriebene Interesse auch bei anderen Schülerinnen und Schülern entwickelte – möglicherweise ist die Neugier auf die Aufklärung des Alltags ein sehr individuelles Motiv. Es ist darüber hinaus auch eine bildende Erfahrung, die man nicht als „output“ irgend einer didaktisch in Regie genommenen Schulstunde planen kann – solche Aha-Erlebnisse oder fruchtbaren Momente dürften sich sehr häufig auch innerhalb der Schulen abspielen – aber sie sind nicht kalkulierbar und standardisierbar. Es war aber sicher das aus der üblichen Unterrichts-Routine ausbrechende, vielleicht einem spontanen Einfall des Lehrers entspringende Experiment, das auf ein für diesen Schüler biographisch wichtiges Bildungsmotiv, auf einen besonderen Bildungstrieb traf und daher sein Interesse weckte. Auf eine ähnlich individuelle Konstellation eines durch Didaktik nicht systematisch herstellbaren Bildungserlebnisses weist auch der folgende Bericht einer Studentin hin.

Sie erzählte von einer Schulstunde, in der die Malerei des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts behandelt wurde. Eher nebenbei zeigte der Lehrer gegen Ende der Stunde Picassos Gemälde „Guernica“ – die Schülerin war zutiefst beeindruckt und bat den Lehrer, ein Referat über den Maler und speziell dieses Bild halten zu können. Glücklicherweise war er nicht dagegen, etwa unter Hinweis darauf, dass dies nicht den curricular schon festgelegten Lernstandards entspreche. „Während ich mich“, so die Studentin rückblickend auf dieses Bildungserlebnis, „auf das Referat vorbereitete, lernte ich mehr und mehr über Picasso, aber auch über andere Maler, was natürlich mein Interesse an der Kunst förderte. Auch nach der Schulzeit beschäftige ich mich mit Kunst. Ich gehe in verschiedene Museen oder Galerien und schaue mir Kunstwerke an. Im letzten Jahr bin ich auch in Madrid gewesen und habe mir ‚Guernica’ im Original angesehen. Ein sehr eindrucksvolles Kunstwerk!!!“

Zahlreiche bildungsbiographisch bedeutsame Berichte dieser Art finden wir auch in der publizierten autobiographischen Literatur – wobei oft sehr persönliche, keineswegs zu verallgemeinernde Erlebnisse geschildert werden. So berichtete z.B. die 1969 geborene Pianistin Hélène Grimaud im Rückblick auf ihre Grundschulzeit ein für sie prägendes Erlebnis: „Eines Tages, als ich mich auf der Schulbank bemühte, mit meiner linken Hand – was meine Nachbarin zum Schielen brachte – die Buchstaben nachzuzeichnen, die ich gerade lernte, begriff ich plötzlich, oder vielmehr spürte ich plötzlich dieses ‚Ich’, mein ‚Ich’, das meine ganze Energie an den Grenzen meines Körpers konzentrierte, während ich von Ausbrüchen (aus der gefängnisartig wirkenden Schule) träumte“.[5]

Was wird in diesen Beispielen deutlich?

Bildungsbiographisch wichtige Schlüsselerfahrungen sind sehr individuell in der je singulären Lebenswelt Heranwachsender verankert – vielfach gehen sie offensichtlich aus einer sehr persönlichen, wohl meist unbewussten Suchbewegung hervor, aus dem, was in der Pädagogik als Bildsamkeit oder auch Bildungstrieb bezeichnet wird: Oft sind es Ereignisse in der Schule (wie ein plötzlicher, ungeplanter Lehrereinfall, ein zufällig gezeigtes, didaktisch nicht systematisch eingeplantes Bild, ein Körpergefühl), die diesen Bildungstrieb gleichsam wachzurufen scheinen. Die Schule muss daher solchen Erfahrungen Raum geben durch ein vielfältiges, nicht kanalisiertes Angebot. Solche Bildungserfahrungen und Bildungsprozesse lassen sich nur begrenzt gezielt herbeiführen, sie lassen sich nicht planen und daher auch nicht standardisieren. „Bildungsstandards“ sind, im Unterschied zu Lern- oder Fähigkeitsstandards, ein Widerspruch in sich selbst.

Mitunter werden solche idiosynkratischen Bildungsprozesse durch die Schule gefördert, häufig aber auch behindert – Schüler haben z.B. Angst, mit ihren Lehrern darüber zu sprechen, aus Sorge, sich lächerlich zu machen.[6]

Wendet man sich nun aus einer phänomenologischen Perspektive der Schulwirklichkeit zu, dann wird rasch deutlich, dass es sich in didaktischen Szenerien immer um Konstellationen handelt, die Bildungsprozesse eher fördern oder unterdrücken – gleichgültig, ob das den Fähigkeits- und Kenntnisaposteln wünschenswert erscheint oder nicht.

Wenn beispielsweise in einem Schulbuchtext für die 5. Klassenstufe die Brennessel als eine Pflanze beschrieben wird, die auf stickstoffreichen Böden wächst und daher eine „Zeigerpflanze für Stickstoff“ ist und wenn dann deren Mechanismus beim Stechen der menschlichen Hand genau beschrieben wird, an keine Stelle indessen das Aussehen und damit die phänomenale „Individualität“ der Pflanze zur Sprache kommt, dann tritt hier erkennbar eine die Sinne anregende und den Gegenstand wirklich würdigende Betrachtungsform zugunsten naturwissenschaftlicher Abstraktionen in den Hintergrund. Das wird noch deutlicher im Vergleich mit einem zweiten Text zur gleichen Pflanze. In diesem Schulbuchtext werden Kinder zunächst einmal aufgefordert, die Brennessel von oben her genau zu betrachten, um zu sehen, wie schön sie eigentlich ist und wie ihre Blätter kreuzweise übereinander angeordnet und regelmäßig ausgezackt sind: Hier wird nicht nur ihr für die Erkenntnis der Pflanze wesentliches räumliches Vorstellungsvermögen angesprochen; erkennbar wird nun auch die eigene Aktivität, das Verhältnis von „Ich“ und „Objekt“, der Aufbau einer inneren Beziehung zu dieser besonderen Pflanze handelnd erarbeitet. Man wird als Betrachter nicht zum scheinbaren Neutrum gemacht, sondern als aktiv wahrnehmende Person herausgefordert. An solchen Beispielen wird deutlich, dass es im Unterricht niemals nur um die Vermittlung von Fertigkeiten und Kenntnissen gehen kann – ob man es will oder nicht, man spricht immer auch in dieser oder jener Weise z.B. ästhetische und moralische Bildungsformen an allein durch die Art, wie man sich bestimmten Unterrichtsgegenständen zuwendet. Diese Bildungsmotive wieder stärker ins Bewusstsein zu heben, wäre Aufgabe einer kritischen Didaktik und schulpolitischen Orientierung, die sich den eingangs zitierten Fehldeutungen der Bildung aufklärend entgegenstellt.



[1] In: DIE ZEIT Nr. 27, 27. 6. 2002, S. 36.

[2] Z.B. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Berlin 42003.

[3] Ausführlich dazu: Christian Rittelmeyer: Bildung. Ein pädagogischer Grundbegriff. Stuttgart 2011.

[4] Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt/M. 1993, S. 9.

[5] Hélène Grimaud: Wolfssonate. München 2005, S. 41.

[6] Siehe dazu auch Horst Rumpfs aufschlussreiche Überlegungen: Was hätte Einstein gedacht, wenn er nicht Geige gespielt hätte? Gegen die Verkürzungen des etablierten Lernbegriffs, Weinheim/München 2010, insbesondere Kapitel 5.

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