Veröffentlicht am 05.05.14

Hamburger Abituraufgaben

Interview (per email ausgetauschte Fragen und Antworten) des ZEIT-Online-Redakteurs Oliver Hollenstein mit dem Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. (GBW) Hans Peter Klein zum fachlichen Niveau und zur Qualität des Zentralabiturs, speziell des Hamburger Abiturs.

Hollenstein: Sie haben die Abituraufgaben in Hamburg in den Fächern Mathematik und Biologie untersucht. Was ist das Ergebnis?

Klein: Die Untersuchungen sind längst noch nicht abgeschlossen und wir beziehen auch weitere Fächer, wie Deutsch und Latein, mit in die Vergleiche. Das Ergebnis ist in allen Fällen ähnlich: die fachlichen Anforderungen sind abgesenkt worden. Und das trifft längst nicht nur auf Hamburg zu.

Hollenstein: Wie haben Sie die Entwicklung des Aufgabenniveaus untersucht?

Klein: Die Aufgaben werden in allen untersuchten Fächern einer qualitativen Analyse unterzogen und auf ihr fachliches Niveau, die formalen Vorgaben und die Erwartungshorizonte hin überprüft, anhand derer die Lehrer die Klausuren zu beurteilen haben. Zusätzlich werden die verwendeten Operatoren – wie Begründen, Beschreiben, Erklären, Bewerten, Analysieren u.a. – daraufhin untersucht, inwiefern der Schüler entsprechend der Aufgabenstellung und der erwarteten Leistung diese auch tatsächlich nachzuweisen hat. An den Analysen sind ausgewiesene Professoren im Fach, der Fachdidaktik sowie Fachlehrer beteiligt.

Holleinstein:Trifft der Niveauverlust, den Sie diagnostizieren, auf alle Abituraufgaben zu? Oder nur auf einige Ausgewählte?

Klein: Selbstverständlich ist es uns nicht möglich, alle Zentralabituraufgaben von 2005 bis 2013 in ihrem kontinuierlichen Ablauf vergleichend in 16 Bundesländern zu untersuchen. Dies ist aber auch nicht unbedingt notwendig, da sich in immer mehr Bundesländern die Aufgabenformate in den letzten Jahren angeglichen haben. Dies trifft auch auf die formalen Vorgaben zu. In Mathematik kann der Schüler (in Hamburg der Lehrer) beispielsweise aus sechs Aufgaben – in Biologie aus drei – jeweils zwei auswählen, die zumindest laut Aussagen der Behörden den Anspruch der Gleichwertigkeit haben. In Mathematik haben wir uns auf Analysis Aufgaben konzentriert, da die in nahezu allen Bundesländern vorgeschrieben sind, sowie Aufgaben zur Geometrie. Alle untersuchten Aufgaben sind zugelassene Standard-Kombinationen.
Ferner ist zu beachten, dass derartige Untersuchungen, die man eigentlich für selbstverständlich halten sollte, von den Bundesländern keineswegs unterstützt werden. Ganz im Gegenteil versucht man den an diesen Untersuchungen beteiligten Lehrern habhaft zu werden und droht den Publizierenden mit rechtlichen Schritten.

Hollenstein: Sie haben gesagt, die Aufgaben in Biologie seien sogar von klugen Siebtklässlern ohne Weiteres zu lösen. Wie kommen Sie darauf?

Klein: Wir haben ja bereits 2010 an einer mittlerweile unter dem Namen „Streifenhörnchen“ sehr bekannten Zentralabiturarbeit eines Leistungskurses Biologie in NRW nachweisen können, dass fast alle Schüler einer 9. Klasse diese Abiturarbeit ohne Kenntnis der zugrunde liegenden Sachverhalte erfolgreich lösen konnten, teilweise sogar mit guten Noten. Dort waren aber zumindest in einer Teilaufgabe noch Sachinformationen einzubringen, was bei der Grundkurs Aufgabe zu den See-Elefanten von Hamburg nicht der Fall ist. Lesekompetenz reicht hier völlig aus und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Siebtklässler die nicht besitzen. Dies trifft natürlich nicht auf Mathematik und auch nicht auf die Sprachen zu.

Hollenstein: Sie kritisieren vor allem die Art der Aufgabenstellung, die sogenannten kompetenzorientierten Aufgabenformate. Was ist deren Problem?

Klein: Das Problem an den derzeit verwendeten Aufgabenformaten ist, dass – ähnlich wie bei PISA-Aufgaben auch – zuerst einmal dem Schüler der Sachverhalt nahezu komplett vorgegeben wird. Hinzu kommen nicht nur in Biologie meist einfache Grafiken und Tabellen hinzu, deren reine Verlaufsbeschreibung schon zu einer beträchtlichen Anzahl von Punkten führt, ohne dass der Schüler sich mit dem Thema auch nur annähernd auseinandergesetzt haben muss. Dies ist zumindest in Teilaufgaben auch in Mathematik der Fall, wie wir 2012 beispielhaft bei der Analyse einer entsprechenden Zentralabiturarbeit in NRW nachweisen konnten. Auch hier war es möglich, eine Teilaufgabe in Analysis lösen zu können, ohne überhaupt zu wissen, was Analysis eigentlich ist.
Ab dem nächsten Jahr sollen in einigen Bundesländern in Mathematik sogar grafikfähige Rechner und in den Sprachen elektronische Wörterbücher erlaubt sein. Die relative Bedeutungslosigkeit korrekter Grammatik und Rechtschreibung für die Benotung haben in die Bestimmungen der einzelnen Bundesländer längst Einzug gehalten. Auch müsste die mittlerweile in den Bildungsstandards von 2004 beschlossene Kompetenzorientierung ja eigentlich mittlerweile Früchte zeigen. Das Gegenteil ist nicht nur in Mathematik der Fall. Die Hochschulen müssen – dank zweistelliger Millionbeträge des Bundesministeriums für Bildung und Wissen – immer mehr Brückenkurse für nicht studierfähige Abiturienten einrichten, denen gerade in Mathematik nicht nur der Stoff in der Sekundarstufe II, manchmal noch nicht mal der aus der Mittelstufe ausreichend bekannt ist.

Hollenstein: Sie sagen, die Aufgaben hätten vor allem das Problem, dass leistungsschwache Schüler nicht scheitern und leistungsstarke sich nicht auszeichnen können. Können Sie erklären, wie das funktioniert?

Klein: Schauen Sie sich die Aufgabe zu den „See-Elefanten“ aus Hamburg oder die zu den „Streifenhörnchen“ aus NRW an. Die Aufgabenstellung ist so formuliert, dass der Schüler sich auf eine Art „Ostereier-Suche“ begibt, um die Stellen im Material aufzufinden, die zur Fragestellung passen. Daran kann ernsthaft niemand scheitern, es sei denn, er kann nicht verstehend lesen. Wie soll sich nun ein guter Schüler an einer derartigen Aufgabe auszeichnen? Er sucht verzweifelt nach Schwierigkeiten, die aber in derartigen  Aufgabenstellungen nun meist nicht vorhanden sind. Sehr gute Schüler tun sich schwer darin, vorgegebene Informationen einfach zu übernehmen, in der Folge fehlen Punkte bei einfachsten Fragestellungen. Auch in Mathematik ist in den ersten Teilaufgaben nicht zu erkennen, wie man daran scheitern könnte.
Hinzu kommt hier das Problem, dass die Anwendungs- und Alltagsbezüge in den Aufgabenstellungen teilweise kompliziert und umständlich formuliert sowie oftmals zwanghaft herbeigeführt wirken, sodass sich mancher Schüler fragt, wonach denn überhaupt gefragt ist. Der Schwierigkeitsgrad ist also hier nicht der mathematische Schwierigkeitsgrad der Aufgabe, sondern eher die Fähigkeit, diese Aufgabenformate zu entkleiden und auf ihren mathematischen Kern zurückzuführen, der oftmals trivial ist.

Hollenstein: Sie kritisieren zudem, dass viele Informationen für die Antworten schon im Material vorgeben sind. Wie viel Prozent der möglichen Antworten stehen denn bereits in den Fragen?

Klein: Bei der See-Elefanten Aufgabe sind es nahezu 100%. Sie können die gesamte Aufgabe vollständig entsprechend dem vorgegebenen Erwartungshorizont lösen, ohne jemals am Biologieunterricht teilgenommen zu haben. Ich kann die Leser nur dazu animieren, sich an dieser Aufgabe im Netz zu versuchen. Nehmen Sie sich – auch als Nicht-Biologie – einfach einmal zwei Stunden Zeit, lesen Sie das Arbeitsmaterial aufmerksam durch und denken Sie immer daran, dass alle Lösungen entweder aus dem Text oder einfachsten Grafiken zu entnehmen sind. Sollten Ihnen die Grafiken, wie man sie aus Kinder- und Jugendbüchern kennt, noch keinen Aufschluss geben, wer hier wohl wen frisst, lesen sie den Text aufmerksam durch, sie werden in jedem Falle fündig.

Hollenstein: Ihre Kritiker sagen nun: Zentrale Informationen aus einem Wust an Information zu ziehen, ist eine Kernkompetenz in einer modernen Wissensgesellschaft. Reines Wissen dagegen veraltet inzwischen so schnell, dass es nahezu wertlos ist. Stimmt das nicht?

Klein: Ich glaube, hier handelt es sich um einen fundamentalen Irrtum. Gerade um aus einer unübersehbaren Datenflut wichtige Informationen zu entnehmen, muss ich immer schon etwas wissen, und dort, wo es darum geht, etwas zu verstehen, eine Methode zu beherrschen oder einen Zusammenhang zu erkennen, komme ich ohne Kenntnisse und Wissen nicht weiter. Außerdem ist es ein Märchen, das Wissen schnell veraltet. Die zentralen Wissensbestände unserer Kultur in Mathematik, Physik, den Kulturwissenschaften, der Philosophie sind zum Teil Jahrtausende alt und wir bauen noch immer darauf auf. Die Mathematik, die im Abitur vorkommt, ist mindestens 50 Jahre alt, bei der Analysis sogar 200 Jahre. Und es ist nicht zu erwarten, dass diese sich in den nächsten 50 Jahren als veraltet oder falsch herausstellt.
Natürlich verändert sich das Wissen, und manches wird rasch entwertet. Aber es gehört auch zur Bildung, zwischen diesen Wissensformen unterscheiden zu können. Wir feiern in diesem Jahr den 450. Geburtstag von William Shakespeare – und in fast allen Kommentaren wird betont, dass in den Texten dieses Autors noch immer unerschlossenes Wissen über den Menschen steckt, mehr vielleicht, als uns lieb sein mag. Von wegen veraltet! Dieses Wissen erschließt sich aber nicht über das Rausziehen von Informationen, sondern durch Lesen, Verstehen, Entdecken, Aneignen.

Die Publikation zu den „See-Elefanten von Hamburg“ finden Sie unter: Die Hamburger See-Elefanten, die komplette Aufgabenstellung plus Erwartungshorizont unter: Abiturprüfungen (ZEIT)