Veröffentlicht am 17.04.20

Nun sag, wie hast du’s mit der digitalen Bildung?

Ein Beitrag von Heribert Schopf

„Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon“. Ich denke, aber vielleicht täusche ich mich ja auch, Gretchen hat erhebliche Bedenken, ob Faust für das digitale Zeitalter firm ist. Dieser Text wurde zu Beginn des „Shut Downs der Schulen“ geschrieben. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung war bislang Vieles unvorstellbar, was plötzlich alles digital möglich ist, wenig bis gar nichts hört man davon, dass nicht alles funktioniert. Gerade aus diesem Grund ist er vielleicht hilfreich, in prinzipieller Weise, auf unbemerkte Phänomene und Nebenwirkungen der Implementierung digitaler Vermittlungsformen hinzuweisen.

In ihm steckt ein wenig Skepsis, keine Gegnerschaft, für alle gesagt, die nur mehr zwischen schwarz und weiß unterscheiden können. Aber mit dem Begriff „digitales Lernen“ habe ich meine Schwierigkeiten, denn ich denke, dass es dieses logisch gar nicht gibt. Wie immer ich mit der zu lernenden Sache konfrontiert werde, so bin es immer noch ich, der hier lernt. Sofern ich also noch selbständig denke, mit mir und anderen widerspruchsfrei lerne und verstehe, solange bleibt die Kirche lerntheoretisch und bildungstheoretisch im Dorf.

Ob in Clouds, durch Apps und Plattformen Angebote zum Lernen gegeben sind, sie bleiben ein Ort von Daten, möglicherweise von Inhalten, die noch nicht dadurch verstanden sind, dass es sie abrufbar und downloadbar gibt. Auch deren bildungstheoretischer Wert vermag das bloße Angebot noch nicht zu rechtfertigen. Zu Beginn dachte ich daran, dass wir erhebliche Schwierigkeiten damit haben dürften, diejenigen Schüler und Schülerinnen online zu erreichen, deren Ansprechbarkeit im Präsenzunterricht schon schwierig war. Ich hatte also zu Beginn noch einen klaren Blick auf das Schuldorf, bevor es Potemkin Stück für Stück zu renovieren begann. Wenn man ausschließlich bildendes Lernen im Blick hat, dann kann man den Hype um digitale Erweiterungen des traditionellen Unterrichts auch jetzt nicht nachvollziehen, weil es technische Innovationen ja immer mit einiger Verzögerung in die Schule und den Unterricht geschafft hatten. Manche stumme Zeugen solcher Innovationen stehen staubbedeckt beinahe in jedem Klassenraum. Was man nicht „in head“ hatte musste der Overhead liefern (diese Bemerkung verdanke ich A. Gruschka) . „Foliendidaktik“ nannte man das damals bis heute. Overhead wurde durch Power-Point ersetzt und manche Lehrpersonen können seit dem gar nicht anders, als widersinniger Weise ihre Folieninhalte den Lernenden vorzulesen, was nicht selten zu weniger Aufmerksamkeit geführt hat, als ein als verpönt diskreditierter Unterricht, in dem man die Sache erzählt bekam, sie befragen konnte und sie diskutiert wurde. Wenig bis gar nichts hörte man dabei vom unabsichtlichen Revival des bis dato immer als didaktischen Beelzebub etikettierten Frontalunterrichts. Nun in Zeiten des „Fernunterrichts“, ob es diesen wirklich gibt wäre eine eigene Untersuchung wert, macht man aus Power-Point eine Videosession, die didaktische Askese bleibt dabei konstant, der Medienaufwand der Bits und Bytes hält mit dem tatsächlich vermittelt werden wollenden Inhalt selten Schritt, Eitelkeit und Fremdschämen inbegriffen. Frontalunterricht ist nun kein Problem mehr, digitales Lernen ohne ihn geht nicht, eine Erkenntnis, die sich empirisch nun durchsetzen sollte.

Aber: Das Mantra des schulischen Selberlernen-Müssens nützt sich schneller ab, als gedacht. Alle beteiligten Schüler_innen, wie Lehrer_innen beklagen den erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwand digitaler Lernformen. Nein! Doch! Oh (Louis de Funes).

Irgendwie wünschte man sich J. F. Herbart herbei, der diese Art des Einzel-Hauslehrerunterrichts schon am Beginn des 19.Jh. für das Beste hielt. Digitales Selber-Lernen erschöpft die individuellen Möglichkeiten derjenigen, die auch im Präsenzunterricht schnell aussteigen. Das kann eigentlich nicht gut gehen, außer man befindet sich platonisch gesprochen in einer digitalen Höhle samt coolen Lernapps, die einem die Wirklichkeit so beschatten, dass sie ersetzt werden kann. Kritisch gewendet: Menschliches Lernen und Verstehen sind auch im Zeitalter digitaler Möglichkeiten die einzige Alternative zur Kontrolle der künstlichen Intelligenz. Man kann sich nicht darüber freuen, wenn das vielgerühmte „home-schooling“ diejenigen genauso wenig erreicht und interessiert haben wird oder hat, wie ein langweiliger Präsenzunterricht vor dem Shut Down. In beiden verflüchtigt sich der Wert der Bildung und verändert seinen Aggregatzustand, er verpufft gewissermaßen substanzlos. Warum wird das digitale didaktische Nichterreichen und Zurückbleiben bestimmter Kinder auf einmal so problematisch? So problematisch, dass man sogar Abschlüsse garantieren will? Ist dieses Zurückbleiben denn ein anderes, als das im Präsenzunterricht, in dem es „part of the game“ schulischer Prozesse war und ist? Was stimmt da nicht?

Die Apologeten einer sogenannten „digitalen“ und „ökonomisierten“ Bildung dürften in speziellen Echokammern sein- vielleicht sogar in derselben, mit folgender Besonderheit: So können in diesen sowohl die angesprochenen Diskursfelder ausgeblendet werden, als auch die von den eigenen Diskursen produzierten performativen Selbstwidersprüche nicht entparadoxiert werden. Ohne es zu merken wird der Mensch vom Herrn zum Knecht einer alles überwachenden, sich alles merkenden und vernetzenden matrixartigen digitalen Fortschritts-Ideologie, samt ihren Überredungsbegriffen, die sich als bürgerrechtseinschränkende Überwachungsstrategie a la China entpuppen könnte. Kritik und kritischer Diskurs, sofern vorhanden, sind einerseits Alibi und/oder Feigenblatt. Man hätte viel zu besprechen. Speichern wird mit Wissen gleichgesetzt. Das Vademekum der Informations- und Wissensgesellschaft ist der volle Datenstick, die Lernplattformen und die Apps geworden. Was dies für uns in der LehrerInnenbildung und den Zentren für Lerntechnologie bedeutet, müsste einmal ausgeleuchtet werden. Bildende Erfahrungen im Unterricht und bildende Erfahrungen mit Hilfe digitaler Medien sind hinsichtlich ihres Verschränkungszusammenhanges noch zu wenig erforscht. Erforscht wird eher das leicht Zugängliche, die Zahl der Anwendungen und subjektiven Einschätzungen, weniger ihr „Impact Faktor“ hinsichtlich bildender Erfahrungen, die ja auch nicht wirklich überprüft werden können. Wie auch, sollte doch zunächst nur geübt und nicht neuer Stoff gelernt werden? Die konsequenzialistische Programmierung der Algorithmen indes wird vorangetrieben. Selbstfahrende Fahrzeuge und Autopiloten sind Selbstverständlichkeiten geworden. Sie gehen uns insgeheim mit ihrem Piepsen und Warntönen schon auf die Nerven, aber das ist erst der Anfang. Der Computer stellt ein und entlässt die Menschen mittlerweile, wie ein Beispiel bei Amazon deutlich macht (vgl. Focus online 3.5.2019). In der Schule wird der Computer von der Lernhilfe zum Controller, Beurteiler und Chancenverteiler. KI wird wohl nur den Besten zuteilwerden, die anderen werden sich mit einfacheren Algorithmen zufrieden geben müssen. Barrierefrei ist hier gar nichts. Der Erforschung der Einsatzgebiete und Wirkfaktoren digitaler Medien wird mehr Ressource zugemessen, als der Erforschung der Zumutungen an die diesen Wirkfaktoren und Treatments ausgesetzten Lernersubjekte. Seit Luhmann wissen wir als Pädagog_nnen um unser Technologiedefizit. Während nun einige Teilgebiete unserer Disziplin dieses durch noch mehr Systemsteuerung zu verringern trachten, schätzen es andere wiederum als einen immanenten Vorteil ein, es ignorieren zu können. Unter Umständen hält diese Fragestellung auch die Konstitutionsproblematik der Pädagogik am Laufen. Mit anderen Worten gesagt: Solange die Digital- Adventisten (Lankau) nicht bemerken, dass es das, was sie liefern wollen, schlichtweg nicht gibt, solange gibt es auch das nicht, was von denen, die sich nicht auskennen, „digitale“ „Bildung“ bezeichnet wird. Derzeit sind ihre Versprechen nämlich, mit Türcke gesprochen, gummiartig wie ihre Begriffe dehnbar sind. Wer aus Lerner_innen digitale Kunden/Kundinnen macht, bekommt am Ende nicht Bildung durch Unterricht, sondern Halbverstandenes. Adorno dazu: „Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind“. […] „Bildungselemente, die ins Bewußtsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in Giftstoffe, tendenziell in Aberglauben, selbst wenn sie an sich den Aberglauben kritisieren “ (Adorno 2006, S. 42).

Dies alles basiert auf normativen Werturteilen, andere gibt es nicht. Geltung kann nicht geleugnet werden (Hönigswald). Wer sich aus ihrer Verantwortung zu ziehen versucht, hat immer noch seine „Meinung“ als letztes subjektives Rückzugsgebiet. Damit handelt man sich aber möglicherweise, nein, ganz sicher, neue Probleme ein. Zum „Meinen“ sagt Alfred Schirlbauer: „Genaugenommen ist aber der Gegenpol zur Meinung nicht das Denken, sondern das Wissen. Der gute alte Kant war noch der Meinung, dass man diese Dinge folgendermaßen unterscheiden könne: Beim Meinen wären die subjektiven Anteile im Gesagten überwiegend, beim Wissen hingegen die objektiven. Hundert Prozent Objektivität gibt es nicht, denn dann wäre man gottähnlich, hundert Prozent Subjektivität gibt es aber auch nicht, denn dann wäre man ein Trottel. Zwischen diesen Extremen leben wir und müssen daher ständig diskutieren und argumentieren.“ (Schirlbauer 2012, S. 58).

Da hätten wir am Ende der Corona-Krise viel zu tun, die Krisen des Unterrichts, der Bildung und der Erziehung (Gruschka) im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Zugriffe auf die Schule auf eine aktuelle Faktenlage neu zu vermessen.

Literatur Adorno, T.W. (2006): Theorie der Halbbildung. Suhrkamp: Frankfurt/Main. Schirlbauer, Alfred (2012): Das ultimative Wörterbuch der Pädagogik. Sonderzahl: Wien. Türcke, Christoph (2019): Digitale Gefolgschaft. Beck: München. Focus online: Automatisierte Prozesse. Amazon kündigt langsamen Mitarbeiter – wenn der Roboter den Daumen senkt. In: [https://www.focus.de/finanzen/news/us-bericht-ki-bei-amazon-kuendigtlangsame-mitarbeiter-automatisch_id_10660365.html] abgerufen 8.7.2019.