Veröffentlicht am 29.10.25
Kompetenzen und die antike Sophistik
Der sogenannte Paradigmenwechsel nach dem Pisa-Schock
Die Gegenwart ist nicht das Ergebnis geschichtlicher Notwendigkeit. Sie ist das Resultat Entscheidungen treffender und handelnder Menschen, die ihrerseits unter historisch auch kontingenten Bedingungen agieren1. Dennoch erscheint der erreichte Stand der Entwicklung, einmal etabliert, nicht selten als gegeben, weder befrag- noch hintergehbar, gleichsam alternativlos. Dies gilt insbesondere dann, wenn ihm attestiert wird, Folge einer Höherentwicklung und Fortschrittsgeschichte zu sein. Allzu leichtfertig wird ihm mitunter das Signum einer innovativen, einzig den Ansprüchen an Modernität genügenden Wende einmontiert, hinter die man nicht zurückfallen dürfe. Einen Paradigmenwechsel vollzogen zu haben, adelt die erklommene Höhe.
Das lässt leicht übersehen, dass sich bei genauerer Betrachtung scheinbar radikale und kategoriale Umbrüche häufig lediglich als Nuancierungen oder Verschiebungen innerhalb des alten und zugleich angegriffenen Systems erweisen oder als Reaktivierung und Reformulierung vergangener Positionen in aktualisiertem rhetorischem Gewand, die durch das neue Paradigma als unumkehrbar überholt ausgewiesen werden.
Die Beachtung dieser Differenzierung ist nicht nur hilfreich, sondern sachlich geboten, wenn man die aktuelle Schul- und Bildungspolitik daraufhin befragt, ob sie ihrem eigenen Anspruch genügt, etwa um die Jahrtausendwende das Bildungswesen einem tiefgreifenden Umbau unterzogen, eben einen Paradigmenwechsel vollzogen zu haben. Denn als Antwort auf den sogenannten Pisa-Schock und auf die aus den internationalen Vergleichsstudien abgeleitete Mittelmäßigkeit des deutschen Bildungssystems wurde seine fundamentale Umsteuerung angekündigt und zügig implementiert. Ihr Kennzeichen sollte der Wandel vom als antiquiert betrachteten, wissens- bzw. inhaltsbasierten und lernzielorientierten Unterricht2 hin zu seiner grundsätzlichen Kompetenzierung sein, eine umfassende Transformation von der zumindest sehr eindimensional unterstellten Inputorientierung hin zu einer Outputorientierung, die mittels empirisch erhobener Daten in standardisierten Massentests tatsächlich die Ergebnisse des Unterrichts misst.
Ziele der Kompetenzumsteuerung
Die Überprüfung des postulierten innovativen Charakters des Umbruchs hat i. W. den Begriff der Kompetenz zum Gegenstand. Sie bildet die Basis der ausgerufenen Wende. Dazu müssen einige Sachverhalte kurz in Erinnerung gerufen werden.
Den Ausweg aus der ja auch für zahlreiche andere, insbesondere westliche Industriestaaten konstatierten Misere sollte die umfängliche Vermessung der Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme bieten, um auf der Basis erhobener Daten und daraus gewonnener Erkenntnisse insbesondere die Schulen fortgesetzter Beobachtung und Steuerung zu unterziehen zur Steigerung und nachhaltigen Sicherung der Leistungsfähigkeit. Vergleichbarkeit der Messungen und ihrer Daten sollten die überall gleich angelegten Standards garantierten. Dies implizierte zugleich deren Loslösung von spezifischem Wissen, spezifischen Inhalten und den jeweiligen kulturellen Kontexten. Und hier kamen die Kompetenzen ins Spiel. Mit ihnen, glaubte man, seien die Voraussetzung gegeben, überhaupt kulturübergreifend bzw. kulturunabhängig Leistungsmessungen durchführen und auf der Basis gewaltiger Mengen an erhobenen Daten verlässliche, neutrale und objektive Aussagen über den Stand nationaler Bildungssysteme treffen zu können3.
Nebenbei sei das Kuriosum vermerkt, dass der doch so offenkundige Widerspruch zwischen einerseits dem Postulat, um der Vergleichbarkeit und Neutralität willen losgelöst von spezifischen Inhalten und von kulturellen Kontexten zu testen, und andererseits dem Sachverhalt, dass die Überzeugung, die Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme ganz unterschiedlicher Länder am selben vereinheitlichenden Maßstab einer Kultur westlicher Prägung ablesen zu können, nicht einmal bemerkt wird. (vgl. Hartong, 78)
Negative Effekte der Transformation
Das gewählte Vorgehen wurde freilich mit einer bemerkenswerten Engführung erkauft. Die Formalisierung und Standardisierung der Testungen konnte und kann weder kultureller Standortgebundenheit gerecht werden noch jenseits formaler Operationen die Ausrichtung eines Bildungssystem auf Werte fundieren. An solchen grundsätzlichen Defiziten setzte bald Kritik an, die zu einer inzwischen umfangreichen Liste substantieller Publikationen angewachsen ist. (Gundlegend und stellvertretend für viele seien Böhme, Dammer (2015), Dammer / Kirschner, Gelhard, Gruschka, Hartong, Krautz, Ladenthin angeführt.)
Für die hier verfolgte Fragestellung nach dem Neuheitscharakter ist die Konzentration auf einen zentralen Aspekt möglich. Zum Gradmesser für die Leistungsfähigkeit eines Bildungssystems wurde dessen Beitrag zum Wirtschaftswachstum erklärt; anders formuliert: die Investitionen in Bildung müssen sich „rechnen“. Das ist zunächst durchaus legitim und einsichtig. Problematisch daran ist die Verkürzung. Zugrunde liegt ein reduktionistisches Menschenbild, das des „homo oeconomicus“, dem die rational choice theory zugrundeliegt. Für Unterricht hat das weitreichende Konsequenzen. Es bedeutet die Abkehr von der Vermittlung als Ballast inkriminierten Wissens, vom Primat der Inhalte und Sache vor den Methoden, von Bildung und d.h. auch Persönlichkeitsbildung in einem umfassenden Sinne hin zum Anhäufen isolierter Kompetenzen, zum Fragmentarischen, von einem primär erkennenden zu einem wollenden Weltverhalten, von einem Weltverhalten also, das die Dinge vorrangig unter dem Aspekt der Verwertbarkeit für die eigenen Interessen betrachtet. Denn die aufgewendeten Ressourcen, die investierte Zeit und Energie sollen effizient eingesetzt werden, die Ausbildung allgemeiner und elastischer Problemlösungskompetenz soll die Anpassung an die Bewältigung sich stets wandelnder Lebens- und Arbeitsbedingungen in einer modernen, sich beschleunigenden Informations- und Technologiegesellschaft verbürgen. Effizienz, Ausrichtung am Pragmatischen und an der (Bewältigung der) Lebenswelt, am Vorfindlichen, Anwendungsbezug, an Fokussierung auf Problemlösung und den neutralen Einsatz der erworbenen Kompetenzen anstelle der Auseinandersetzung mit der Sache und mit Inhalten, mit dem, was etwas von sich selbst her wert ist, bilden die Konstitutiva des Paradigmenwechsels, die Signatur des Neuheitsbewusstseins.
Das Bildungsprogramm der Sophistik
Dass wir es hier mit einem neuen, modernen, innovativen Konzept zu tun hätten, lässt sich allerdings schwerlich behaupten. Schließlich wird der Antagonismus zwischen Bildung und Kompetenzen keineswegs zum ersten Mal ausgetragen. Vielmehr ist das vermeintlich einen Paradigmenwechsel markierende Bildungsprogramm der OECD in seinen Grundzügen etwa zweieinhalbtausend Jahre alt. Es ist das Programm der antiken Sophistik. Wir kennen die Lehren und Positionen der antiken Sophisten weitgehend durch den Filter einiger platonischer Dialoge (v. a. Gorgias, Protagoras, Phaidros), weniger aus primärer Bezeugung (z. B. Isokrates).
Was die Rekonstruktion ihres Bildungsprogramms betrifft, folge ich dem klugen Buch von Gyburg Uhlmann (s. Literaturverzeichnis; zur Sophistik allgemein Graeser, 18 – 86) zu Rhetorik und Wahrheit von Sokrates bis Trump4. Danach gehört zu den Grundüberzeugungen der Sophisten hinsichtlich dessen, was (Aus-)Bildung leisten soll:
Da es den Sophisten zufolge keine Wahrheit gibt bzw. diese nicht erreichbar ist, ist der Gegenstandsbereich der (Aus-)Bildung das Wahrscheinliche, erkenntnistheoretisch gesprochen die Dimension der Meinung. Die Unerreichbarkeit der Wahrheit und der daraus resultierende Verzicht darauf, eine wirkliche Erkenntnis der Sache erzielen zu können, ermöglicht lediglich ein Abwägen von Meinungen und den Austausch über sie. Ziel des Unterrichts muss daher sein, zur Durchsetzung der eigenen Meinungen bzw. Positionen zu befähigen. Die eigene Position muss zur wahrscheinlichen gemacht werden, ihr Maßstab ist das im Gegebenen Plausible und das, was andere gerne hören möchten. Das impliziert einerseits die Entkopplung von ohnehin nicht erreichbarem Wissen, unerreichbarer Wahrheit und von moralischen Maßstäben, andererseits die Abkehr von praxisfernem Lernen und von der Beschäftigung mit unnützen Dingen. Gefordert ist eine schnelle, effiziente, von Ballast befreite (Aus-)Bildung. Instrument dazu ist die Schulung allgemeiner, auf vielfältige Weise möglichst unmittelbar anwendbarer Techniken. Es geht um Praxis, nicht um theoretische Begründung, um Handwerkszeug, nicht um Reflexion. Funktionalisierung und Instrumentalisierung sind dem sophistischen Bildungskonzept wie der Kompetenzbasierung gleichermaßen inhärent.
Das sophistische Bildungskonzept folgt pekuniären Logiken. Zur Planbarkeit des Bildungserfolgs wurden Curricula entworfen, Werbung für die eigene Schule gemacht, um sich in der Konkurrenz um Schüler zu behaupten.
Schluss
Eingangs wurde formuliert, dass sogenannte Paradigmenwechsel oft nur Verschiebungen innerhalb eines bestehenden Systems sind oder lediglich Neuformulierungen alter Programme. Die Kompetenzierung des Bildungswesens ist im Rückblick auf die Sophistik zweifellos ein Beispiel für den zweiten Fall. Dem Kriterium der Modernität genügt allenfalls die entwickelte Technik (Big Data), mit der die Massentests durchgeführt werden. Insofern erscheint das Neuheitspathos wenig gerechtfertigt. Zugleich stellt sich die Frage, ob von dem mit der Kompetenzbasierung und Outputorientierung erfolgten Rückgriff auf ein ca. zweieinhalb Jahrtausende altes Bildungsprogramm hinreichend Antworten auf die komplexen Anforderungen der Gegenwart zu erwarten sind. Zu Recht handelte es sich schon damals den Vorwurf der Wissenschaftsfeindlichkeit ein; und es war Platon, der in der Auseinandersetzung mit den Sophisten nicht müde wurde zu zeigen, dass dieses Programm nicht in der Lage ist, Bildung begründet in einem Wertefundament zu verankern.
Es ist erstaunlich – diese Beobachtung zum Schluss -, wie wenig in den bildungspolitischen Debatten thematisiert wird, dass der reduktionistische und verzweckende Zugriff des Kompetenzansatzes den aus dem Grundgesetz und den Schulgesetzen der Länder resultierenden, genuinen Auftrag umfassender (Persönlichkeits-)Bildung und Wertevermittlung nicht ausreichend verfolgen kann. Dies zu erörtern ist freilich Gegenstand weiterer Überlegungen.
Anmerkungen:
(1) Zur Problematik (historischer) Notwendigkeit vgl. schon die in der Antike geführte Diskussion. Das dahinterstehende logische Problem ist die Frage, an welcher Stelle das logische Prädikat „notwendig“ anzusiedeln ist: Hat alles, was ist, notwendig eine Ursache oder eine notwendige Ursache? Ein Grundlagentext zur Thematik ist Alexander von Aphrodisias: Über das Schicksal = de fato, übers. und komm. von A. Zierl, Berlin (Akad. Verlag), 1995.
(2) Schwer verständlich ist das bis heute regelmäßig bemühte Zerrbild der sogenannten traditionellen Schule und ihrer angeblichen Konzentration auf die Vermittlung „toten“ Wissens und auf den Frontalunterricht. Zur Erinnerung: Seit den 1970er Jahren ist Unterricht in Deutschland lernzielorientiert, problemorientiert, exemplarisch, Arbeitsunterricht.
(3) Dass sich aus punktuellen Messungen der Leistungen einzelner Schülerinnen und Schüler zwingende Rückschlüsse auf ein Bildungssystem als Ganzes ergeben, dürfte eine vorschnelle Annahme sein, wenngleich sie inzwischen weitgehend als selbstverständlich akzeptiert ist.
(4) Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die Frage einzugehen, inwieweit wir aus den Platonischen Dialogen die tatsächliche Position der Sophisten rekonstruieren können. Diesen Anspruch verfolgt dieser kleine Beitrag auch nicht. Ziel ist es, darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei der vorgeblich so neuen und innovativen Kompetenzorientierung um ein Konzept handelt, das schon in der bildungspolitischen Diskussion im antiken Athen eine prominente Rolle spielte und z. T. berechtigter Kritik ausgesetzt war.
Literaturhinweise:
Böhme, Gottfried (2021): Von kompetenten Ignoranten und kreativen Tagträumern. Warum es traditionellem europäischen Denken widerspricht, den Kompetenzbegriff zum zentralen Bildungsbegriff zu machen – gerade im digitalen Zeitalter, in: Autonom und mündig am Touchscreen. Für eine konstruktive Medienarbeit in der Schule, hrsg. von Lankau, Ralf, Weinheim, Basel, 145 – 150.
Chwalek, Burkard: Kompetenzbasierung und Digitalisierung als rückwärtsgewandte Ideologien. http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/kompetenzbasierung-und-digitalisierung-als-rückwaertsgewandte-ideologie.html.
Dammer, Karl-Heinz: Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument (= Pädagogik und Politik 8, hrsg. von A. Bernhard u. a.), Baltmannsweiler 2015.
Dammer, Karl-Heinz / Kirschner, Anne (Hrsg.): Pädagogisches Neusprech. Zur Kritik aktueller Leitbegriffe, Stuttgart 2023.
Gehlhard, Andreas: Kritik der Kompetenz, Zürich 32018.
Graeser, Andreas: Die Philosophie der Antike 2. Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles. In: Geschichte der Philosophie, Band II, hrsg. v. W. Röd, München 21993.
Graupe, Silja; Krautz, Jochen: Die Macht der Messung. Wie die OECD mit PISA ein neues Bildungskonzept durchsetzt, in: Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte. Beiheft 4, Bernkastel Kues 2014, 139 – 146.
Gruschka, Andreas: Erziehen heißt Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht, 2. erw. und aktualisierte Aufl., Stuttgart 2019.
Hartong, Sigrid: Von der OECD zur neuen Unterrichtspraxis: Wie das Wirtschaftsdenken das Klassenzimmer erobert. (Vortrag an der Universität Bamberg, am 29. Nov. 2012.
https://www.gew-hessen.de/fileadmin/user_upload/1_themen/marburger_bildungsaufruf/E_Hartong_Sigrid_Von_der_OECD.pdf; Abruf: 22.10.2025)
Klieme, Eckhart u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Expertise, hrsg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin 2007.
Krautz, Jochen: Kompetenzen machen unmündig. Eine zusammenfassende Kritik zuhanden der demokratischen Öffentlichkeit. Streitschriften zur Bildung, Heft 1, hrsg. v. d. Fachgruppe Grundschulen der GEW Berlin, Berlin 22015, 6-21.
Ladenthin, Volker: Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit, in: Profil, Mitgliederzeitschrift des deutschen Philologenverbandes 9 / 2011, 1-6.
Uhlmann, Gyburg: Rhetorik und Wahrheit. Ein prekäres Verhältnis von Sokrates bis Trump, Berlin 2019.
Weinert, Franz E.: (22001) Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit, in: Leistungsmessungen in Schulen, hrsg. von F. E. Weinert, Weinheim / Basel 22001,17 – 31.
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