Veröffentlicht am 22.05.13

Gehorsam verweigert

Was ist eigentlich aus meinen Göttinger Professoren geworden, erkundigte sich der hannoversche König Ernst August I. scheinheilig beim Universalgelehrten Alexander von Humboldt. Dann schob er nach, dass sich ein Landesherr Professoren ähnlich wie Tänzerinnen oder Huren „überall“ kaufen könne. Die selbstgefällige Bemerkung zeigt nach Einschätzung von Prof. Steffen Martus, Berlin, dass der Welfen-König nicht einmal ansatzweise verstanden hat, worum es der Göttinger Sieben 1837 in ihrer Protestation, ihrem Protestschreiben, gegen die Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover gegangen sei….Geld, so Martus, sei das letzte gewesen, worauf es die Brüder Wilhelm und Jacob Grimm abgesehen hätten. Finanzielle Erwägungen seien nicht der Grund für ihre gewaltigen Forschungsleistungen gewesen. Die in der Protestation entfalteten staatsrechtlichen Bedenken hätten das Abstraktionsvermögen des Königs offenkundig überfordert. Immerhin hätte er verstanden, dass ihm die Professoren trotz ihres untertänigen Tonfalls den Gehorsam verweigerten.

„Weil der Text in die Öffentlichkeit gelangte und in zahllosen Abschriften verbreitet wurde, sah sich der König zum Handeln gezwungen“, führte Martus aus. Ernst August hätte die sieben Hochschullehrer kurzerhand entlassen. Die drei vermeintlichen Rädelsführer, darunter Jacob Grimm, seien aufgefordert worden, die Stadt innerhalb von drei Tagen zu verlassen.

Das Erstaunliche an dem Vorfall ist nach Meinung von Martus, dass die Grimms von der aufgehobenen Verfassung an sich nichts hielten. Sie empörte der Handstreich des Königs, seine Anmaßung, eine Verfassung nach Gutdünken einseitig aufzukündigen…Das königliche Vorgehen habe auch ihr Selbstverständnis als Professoren im Kern berührt. Wie sollten sie in Zukunft Studenten zu politischer Langsicht erziehen, wenn sie in so einer Situation schwiegen. Dann hätten sie ihre persönliche Integrität verloren.

Diese Sicht der Dinge sei seinerzeit in Göttingen nicht mehrheitsfähig gewesen, erläutert Martus. Nur sieben von 41 Professoren hätten die Protestation unterzeichnet. Für die Grimms sei das keine Überraschung gewesen. Sie hätten sich mit ihren Kollegen, die ständischen Vorstellungen verhaftet waren, seit Beginn ihrer Göttinger Zeit 1829 schwer getan. Die an der Hochschule vorherrschenden Arbeitsroutinen seien für sie „sinnlose Zeitvernichtung“ gewesen. Schockiert habe sie, dass der Universitätssenat zum 100-jährigen Universitätsjubiläum 1837 die 1802 abgeschafften Talare mit Barett wieder anschaffen ließ. Nach ihrer Überzeugung hing die Würde des Amtes nicht von historischer Kostümierung, sondern von wissenschaftlicher Leistung ab.

Mehr Anklang fanden die Brüder bei den Studenten, weiß Martus. Als die Professoren entlassen wurden, kam es zu Demonstrationen. Landdragoner versuchten die Studenten mit gezogenem Säbel in Zaum zu halten. Berittene Soldaten lösten die Protestzüge auf. 200 Studenten gingen nachts zu Fuß zur Landesgrenze, um die der Stadt verwiesenen Professoren mit Vivat-Rufen zu verabschieden. (Quelle: Michael Caspar, Gehorsam verweigert, in: Göttinger Tageblatt 18.Mai.2013, S.32)

Kommentar MP

Natürlich ist die historische Situation heute ganz anders als damals. Eine Gleichsetzung ist so gut wie in jeder Hinsicht unmöglich. Doch Vergleichen kann man schon. Der Bericht Michael Caspars über eine Vorlesung von Steffen Martus scheint für einen solchen Vergleich geradezu geschaffen. Die Vorstellung jedenfalls, daß gegenwärtig, wenn nicht die Mehrheit, dann doch wenigstens, wie bei den „Göttinger Sieben“, eine progressive Minderheit von Professoren sich der Verwandlung der Universität in ein betriebswirtschaftlich organisiertes Unternehmen und damit ihrer Entdemokratisierung laut und öffentlich widersetzen und dafür von den Studierenden mit „Vivat“-Rufen bejubelt werden könnte, bringt einen, angesichts der Realität aus Kleinmut, Karriereangst und vorauseilendem Gehorsam in unseren Hochschulen, schon beinahe zum Heulen.

Der ganze Artikel als PDF: Göettinger Tageblatt: Wissenschaft & Wetter