Veröffentlicht am 18.08.24

Digitalisierung des Unterrichts – Ein Blick auf andere Länder und Befunde medizinischer Forschung

Angesichts der mitunter gereizt geführten Debatten um die Digitalisierung des Unterrichts ist es fast schon ein Topos geworden vorwegzuschicken, dass der eigene Beitrag zum Thema nicht gegen die Digitalisierung der Schulen an sich anschreibe. Zu leicht oder leichtfertig werden wohl nachdenkliche Stimmen dem Verdacht ausgesetzt, am Alten festhalten zu wollen, die Zeichen der Zeit zu verkennen und notwendige Entwicklungen unnötig auszubremsen. In diesem Sinne möchten die folgenden Ausführungen ohne Aufgeregtheit einige Positionen zum Thema darstellen. Den Anlass bieten mehrere Artikel, die in jüngster Zeit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (sämtliche Quellenangaben s. u.) erschienen sind und einen Blick über den eigenen Horizont hinaus auf das Agieren anderer Länder ermöglichen, ergänzt um Erkenntnisse medizinischer – bzw. der Hirnforschung.

Digitalisierung der Schulen – Ein Blick auf andere Länder

Dabei fällt insbesondere auf, dass gerade diejenigen Länder, die in Deutschland in Anbetracht des Digitalisierungstempos gerne als leuchtende Vorbilder vor Augen gestellt und als Beleg für die eigene Rückständigkeit präsentiert werden, gegenüber der Digitalisierung des Unterrichts bzw. deren beschleunigtem Vorantreiben eine zunehmend verhaltenere Positionierung einnehmen. In anerkennenswerter Weise scheut man sich dabei nicht, in der Vergangenheit getroffene Entscheidungen selbstkritisch zu befragen, diagnostizierte Fehler offen anzusprechen im Verein mit der Bereitschaft, erkannte Fehlentwicklungen gegebenenfalls zu revidieren.

Julian Staib beleuchtet in seinem Artikel (vgl. Quellenangabe 4) die Diskussion in Dänemark und berichtet, dass sich im digitalen Vorreiterland Dänemark die Erkenntnis von der Schädlichkeit zu vieler Bildschirme in den Schulen und sozialer Netzwerke durchsetze und man auf die Rückkehr der Bücher und Stifte setze. Er zitiert den Bildungsminister, der die „“Zerstörung der Bildung““ durch die viele Bildschirmzeit sowie die viel zu große Naivität gegenüber den Technologieunternehmen beklage. Dänemarks Ministerpräsidentin kommt zu dem Ergebnis, dass man die Kinder einem „“riesige[n] Experiment““ ausgesetzt habe, ohne sich über die Folgen im Klaren gewesen zu sein und fragt, warum Kinder in der digitalen Welt nicht vergleichbaren Schutz genössen wie in der analogen. Die Forscherin Aida Bikic warne gar vor einem „“nationalen Notstand““. Staib verweist in seinem Artikel noch auf ähnliche Diskussionen in Schweden und Norwegen.

Der Beitrag von Johannes Pennekamp (Quellenangabe 3), es handelt sich um ein Interview mit der Bildungsministerin Kristina Kallas von Estland – Europas PISA-Champion, wie vermerkt wird -,  mit dem Titel „“Das Gehirn arbeitet anders, wenn auf Papier gelernt wird““ informiert über das grundsätzliche Konzept der „digitalen“ Bildung in Estland. Wahrscheinlich wider Erwarten wird digitales Lernen in Estland, so die Ministerin, strikt aus dem Klassenzimmer verbannt, das der sozialen Interaktion der Lehrkräfte und Kinder vorbehalten sei. Digitale Instrumente würden außerhalb des Klassenzimmers zum Einsatz kommen.

Auch Oliver Georgis Ausführungen unter dem Titel „Wären Handys doch nie erfunden worden“ (vgl. Quellenangabe 1) enthalten Hinweise auf andere Länder, z. B. auf Handyverbote an amerikanischen Schulen, in Italien und Großbritannien. Schweden, vom eigenen Selbstverständnis her lange ein Vorreiter der Digitalisierung, mache eine Kehrtwende bezüglich Bildschirmen und Handys.

Georgi verweist dabei auch auf den Hintergrund der inzwischen stark veränderten Einstellung der angeführten Länder zur Digitalisierung des Unterrichts: die oft schädlichen gesundheitlichen und psycho-sozialen Folgen.

Digitalisierung und Ergebnisse medizinischer – bzw. der Hirnforschung

Georgi referiert u. a. Ergebnisse einer Studie des Jugendpsychiaters Rainer Thomasius (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf), die er gemeinsam mit der DAK durchgeführt hat und der auf das hohe Suchtpotenzial von Smartphones verweist und darauf, dass das gesundheitsgefährdende Ausmaß der Nutzung besorgniserregend sei. Verlust von sozialen Kontakten, medienbezogene Störungen, Essstörungen werden als Folgen genannt.

Sehr viel ausführlicher über (mögliche) negative gesundheitliche Auswirkungen der Bildschirmnutzung von Kindern und Jugendlichen kann man sich über das Thema informieren in dem sehr ausgewogenen Gastbeitrag des Neurobiologen an der TU Braunschweig, Prof. Dr. Korte: „Viel Bildschirmzeit schadet gerade den Gehirnen von Kindern“ (Quellenangabe 2). Zwei Aspekte möchte ich herausgreifen.

  1. Ausgehend von dem Befund, dass wir Kinder zwar bei allen möglichen Gelegenheiten in der analogen Welt durch entsprechende Maßnahmen schützen (genannt werden z. B. Helmpflicht, Abbauen von Spielplatzpumpen auf dem Wasserspielplatz – Verletzungsgefahr! -, Warnhinweise beim Kauf von Computermäusen – Handgelenkschmerzen! – und dgl.), fordert Korte eine undogmatische Diskussion darüber, Kindern in der digitalen Welt eine vergleichbare Sorgfalt und Fürsorge angedeihen zu lassen. Zu dramatisch seien die Gesundheitszahlen. Besondere Bedeutung erhält diese Forderung aufgrund der spezifischen Beschaffenheit kindlicher und jugendlicher Gehirne.
  2. Kindliche und gerade jugendliche Gehirne in Zeiten des Umbaus seien besonders fragil und in einer kritischen Phase für die Ausbildung des „planerischen Denken[s]“, für „rationale Analyse“, „emotionale Kontrolle“, „das Erkennen von Gefühlen in anderen“. Diese kritische Phase bestehe z. B. auch für den Spracherwerb, keineswegs aber „in Bezug auf Internetnutzung, App-Nutzung oder den Bereich der digitalen Medien“. Demzufolge gebe es keine bildungspolitische Notwendigkeit, digitale Medien früh zu nutzen.“

Die Erkenntnisse abgewogen stellt Korte die Frage, ob im Zweifel im Interesse der Kinder und Jugendlichen nicht Vorsicht geboten sei.

Schluss

Vor inzwischen fast zehn Jahren ist das Buch der damals für die Bertelsmannstiftung tätigen Autoren Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt erschienen mit dem Titel „Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können.“ (Deutsche Verlagsanstalt, München 2015) Aus Sicht der Autoren wie zahlreicher Befürworter einer umfassenden Digitalisierung des Bildungswesen sicher ernüchternd sind die großspurigen und vollmundigen Verheißungen weitgehend zerfallen, die von den Autoren beschriebene, digitale Bildungsrevolution ist weitgehend ausgeblieben.

Und hier ist der Blick über den Tellerrand, der Blick auf andere Länder hilfreich. Denn wenn gerade diejenigen unter ihnen, die die Digitalisierung auch der Schulen weit schneller und umfassender in Gang gesetzt haben, aufgrund gewonnener Einsichten davon wieder in z. T. nicht unerheblichem Umfang abrücken, so liegen die Ursachen offenkundig nicht bei den „Bremsern“, sondern in der Sache, der Digitalisierung, selbst. Vielleicht doch ein Grund, Kortes „Team Vorsicht“ beizutreten und Vernunft und Augenmaß walten zu lassen.

Quellenangaben:

1) Oliver Georgi: Wären Handys doch nie erfunden worden. In: FAZ vom 28.07.2024. (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/handysucht-loest-ein-smartphone-verbot-an-schulen-das-problem-19852619.html)

2) Martin Korte: Viel Bildschirmzeit schadet gerade den Gehirnen von Kindern. In: Faz vom 17.07.2024.

(https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/kuenstliche-intelligenz/smartphone-und-pc-bildschirmzeit-schadet-gerade-den-gehirnen-von-kindern-19855625.html?GEPC=s9&premium=0xb0161653f8e6f14c2703283b4de9f1569bbacf986043ca0e5228ec2192d9e81f)

3) Johannes Pennekamp: Das Gehirn arbeitet anders, wenn auf Papier gelernt wird. In: FAZ vom 27.07.2024. (https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mehr-wirtschaft/kristina-kallas-im-interview-auf-tiktok-lernen-kinder-viel-gutes-19881734.html?GEPC=s9&premium=0xe0fb13002da486c309ecc7cd9686bd44bf6bc583d012420532210d07fe6ae19b)

4) Julian Staib: Dänemark will die Kinder vor Tiktok retten. (https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/daenemarks-kampf-gegen-tiktok-die-kinder-retten-bevor-es-zu-spaet-ist-19857668.html)

Der Beitrag als PDF: Digitalisierung des Unterrichts – ein Blick auf andere Länder