Veröffentlicht am 12.12.13

Back to the future!

Kommentar zum Lehrplan 21 der Schweiz (NZZ, 25. November 2012)

Ueken, Fricktal, 1971, Mittelstufe. Mein erster Einsatz als Primarlehrer. Meine Schüler und ich. (Nicht einmal ein Lehrbuch.) Ein Abenteuer mit zum Teil unsicherem Ausgang. Sie lernen aus der Attraktivität und den Schwierigkeiten, die meine Themen und Fragestellungen ihnen bieten. Ich lerne, indem ich sie auf ihren grundverschiedenen Lernwegen beobachte. Überraschungen sind dabei der Normalfall. Am Schluss haben sie viel gelernt – was sie mir noch Jahre später bestätigen.

Fachliche und überfachliche Kompetenzen und lokales, also erfahrbares Wissen. Aber nicht jeder genau dasselbe – denn es ist für mich nicht planbar, was sie anregen wird. Und also nicht mit exakt voraussagbaren Ergebnissen. Eine Situation, die sie und mich vor grosse Herausforderungen stellt. Die sie und ich gern meistern – denn Kinder sind begierig auf Lernen, und ich bin fasziniert von dieser pädagogischen «Zumutung». Im unteren Stockwerk unterrichtet meine Kollegin, ebenfalls erstmals im Einsatz, die Unterstufe. Sie macht es ganz anders als ich. Aber auch bei ihr lernen die Schüler eine Menge.

Ein Paradigmenwechsel

X, irgendwo in der Deutschschweiz, 2021. Loyal folge ich dem neuen Lehrplan. Aber alles, was die Uekener Schulstube ausmachte, ist verschwunden: Zuerst einmal der Unterricht in seiner ganzheitlichen Gestalt (im Sinne der Gestaltpsychologie). Er ist atomisiert in 4000 Staubteilchen, Kompetenzen genannt, die ich meinen Schülern antrainiere, in der Hoffnung, möglichst bald objektiv messen zu können, wie das Training anschlägt. – Dann die Schülerinnen und Schüler – in ihrer Individualität. Sie sind nicht Selbstzweck in ihren seltsamen Lernwegen, sondern ein Bündel optimierbarer Kompetenzen, und was mich interessieren soll, ist ihr «Output». Vergessen gegangen ist, dass die vielleicht wichtigste aller Schulreformen im Westen darin bestand, auch junge Menschen im Sinne Kants immer als Selbstzweck zu denken und nicht als Mittel zum Zweck – nämlich damals ergebene Staatsdiener zu werden und heute universal einsetzbare, flexible Marktteilnehmer. – Verschwunden bin aber auch ich selber als Pädagoge, als freier Gestalter eines für die Lernenden faszinierenden Inputs. Denn das Korsett der 4000 Kompetenzen meines Lehrplans ist erstickend eng. Dafür habe ich die ganz unpädagogische Hybris entwickelt, zu meinen, ich hätte das Lernen im Griff; und zu behaupten, dass die Schüler am Schluss über diese Kompetenzen wirklich verfügen. (Ginge es «nur» um Wissen, wäre übrigens diese Behauptung nicht gleichermassen vermessen.) Und schliesslich ist der spezifische, nicht austauschbare Inhalt verschwunden, dessen Reiz meine Schüler damals antrieb. Hier ist nun jeder Inhalt recht, wenn ich nur an ihm bestimmte Kompetenzen vermitteln kann. – Meine Kollegin macht übrigens im untern Stockwerk dasselbe. Und die in Schaffhausen auch.
Diese Gegenüberstellung will nicht nahelegen, dass wir «zurück zur guten alten Zeit» gehen sollen. Aber dass das, was an der alten Zeit gut war, zukunftsweisender sein könnte als das Konzept, das hinter dem Lehrplan 21 steckt. Dafür gibt es in der jüngsten Forschung unter anderen die folgenden Indizien:

Lernen geschieht oft zufällig, besitzt eine hohe individuelle Varietät und ist deshalb nur sehr beschränkt planbar, so lautet ein zentrales Ergebnis der Hirnforschung. Nicht einmal Wissen lässt sich mit dem Nürnberger Trichter abfüllen – geschweige denn Kompetenzen.
Pädagogik und Didaktik sind dem «Flächendeckenden» (557 Seiten umfasst der Lehrplan 21), dem «Systematischen» spinnefeind. Sie arbeiten mit dem Exemplarischen. Und zudem mit einem reichen und interessanten inhaltlichen Angebot, in der Hoffnung, je andere Elemente daraus würden bei je anderen Schülern zünden, sie auf ihre eigenen Lernwege schicken.
Unterrichtsqualität ergibt sich in allererster Linie durch die autonome Lehrperson. Hierzu sei auf die umfassende Metastudie von John Hattie «Visible Learning» verwiesen.

Die berühmte Studie von H. P. Klein zeigt krass den drohenden Niveauverlust unter dem neuen Regime: Die Biologieprüfung im kompetenzorientierten deutschen Zentralabitur lässt sich lösen ganz ohne inhaltliches Wissen zum Fach – also ohne vorgängigen Unterricht in Biologie!
Kompetenzen visieren Handlungen an statt zum Beispiel Reflexion, Kritik oder «blosse» Neugierde und sind, als Unterrichts-Output in Form von Test-Handlungen, einer Messung ungleich zugänglicher als diese. Das kann fatale Schul-Rankings zur Folge haben und kurbelt zudem einen milliardenschweren Bildungsmarkt an.

Jetzt die Konsequenzen ziehen

Wollen wir wirklich dieses Modell der Standard- und Kompetenzorientierung implementieren, nachdem es gescheitert ist etwa in den USA, in Österreich und Deutschland? In den USA versucht man, heftig Gegensteuer zu geben, seit selbst die American Evaluation Association und ihre Standardisierungspäpstin, Diane Ravitch, das Scheitern eingeräumt haben. Es hat sich damit in aller Deutlichkeit als nicht zukunftstauglich erwiesen. Ersparen wir unsern Schülern und Lehrern – und nicht zuletzt den Steuerzahlern – diesen Umweg auf dem Weg in die Zukunft.