Veröffentlicht am 25.07.12

›Elfenbeinturm‹

Schon von Salomo wird er besungen, der legendäre ›Turm von Elfenbein‹. Viele Mythen ranken sich um das Weiße Gold, dessen Wert sich vor allem daraus ergibt, dass es in reiner Form so selten zu finden ist. Strahlend und makellos sollten die Zähne der Dickhäuter sein, von denen nicht wenige für päpstliche Schatzkammern, kunstvolle Schnitzereien oder Billardkugeln sterben müssen.

Das biblische Symbol edler Reinheit und Unberührtheit wird im Zuge seiner neuhumanistischen Umdeutung zur ideellen Heimat der Akademiker und Höhergebildeten, die mit Humboldt einen Schutzraum für Bildung proklamieren, der in vollständiger Abwesenheit allen Zwanges und staatlicher Verwertungsinteressen eine unbeeinträchtigte Konzentration auf das Wesentliche, nämlich die reine Wissenschaft ermöglichen soll. Freiheit und Muße werden all denen gewährt, die sich mit dem Einlass in den Turm öffentlich der unbedingten und unabschließbaren Suche nach der Wahrheit verschreiben. Dem ›Sichbekennenden‹, welcher der ›Professor‹ im eigentlichen Wortsinne ist (Derrida), geht es nicht um Anwendung, Nützlichkeit oder materiellen Gewinn, sondern um den selbstbildenden, zweckfreien Vollzug eines Glaubens an die Universität und Humanität.

Die faktische Erscheinung des Ortes wissenschaftlicher Erkenntnis bleibt bekanntlich  weit hinter der klassischen Idee zurück, welche letztlich selbst zur Zielscheibe wird. Elitebildung verkommt zur Massenbildung, die jedoch nicht die allseits erhoffte höhere Bildung von Vielen ist sondern ein mittelmäßiges Massenprodukt, das lediglich den Absatzerfordernissen eines Marktes genügen muss. Mit der Bildungsexpansion werden die edlen Türme zu tristen Plattenbauten — nicht mehr aus weißem Gold, sondern aus grauem Beton, verstärkt durch Asbest.

Der heutige Bewohner des Elfenbeinturms hat mit dem heroischen ›Akademos‹ nur noch wenig gemein. Aus dem einstigen Streiter der Wahrheit ist eine potentiell tragische Figur geworden. Der pejorative Beigeschmack des Begriffs und die damit einhergehenden Ressentiments gegenüber Personen, die angeblich nur für ihre Sache leben ohne sich um die profanen Belange der ›Welt da draußen‹ zu kümmern, haben sich merklich intensiviert. Die gesellschaftliche Intoleranz gegenüber intellektuellem Autismus von Denkern und Theorien, die in der Außenwahrnehmung nur um sich selbst und den Hörsaal kreisen, ist nicht nur salon-, sondern auch mehrheitsfähig geworden. In seiner bolognesen Zwangsmutation wird der Homo Academicus zum Bittsteller und clownesquen Karikatur: ein weltfremder Eremit, der um die Gunst eines Publikums werben muss, das ihn zwar nicht versteht, aber doch bitte unterstützen möge.

Wem das zu negativ klingt, dem seien die Eigenheiten der akademischen Existenz selbst anheim gestellt, die den Sachverhalt in ein anderes Licht rücken können: Es mutet infolge obiger Beschreibungen beinahe paradox an, dass der Vorwurf des Elfenbeinturms immer dann geäußert wird, wenn man eine wirklich treffende, kritische Aussage zur Praxis macht, der gegenüber man ja angeblich indifferent ist. Es ist aber nun beileibe nicht so, dass eine von Fremdinteressen unabhängige Bildung nur auf sich selbst verweisen kann. Unbedingtheit ist nicht Weltfremdheit und schon gar nicht Weltvergessenheit. In ihr artikuliert sich vielmehr eine tiefe Sorge um den Menschen und seine Zukunft, die dem Anspruch nach auch öffentlich und gegen jeden Widerstand verkündet werden muss. In historischer Betrachtung hat sich dieser Geist glücklicherweise als unauslöschlich erwiesen; er überlebt aber weder in Türmen aus Gold noch im alltäglichen Betrieb, sondern in jenen Menschen, die mit ganzer Kraft einer edlen Aufgabe zu folgen bereit sind.

(Quelle: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 4/10)