Veröffentlicht am 20.11.17

Buch: Lernen. Wir werden was wir sind

von Bernd Hackl

Wenige Vorgänge unseres täglichen Lebens sind so allgegenwärtig wie das Lernen. Wir lernen praktisch ununterbrochen: wie man den Apfelkuchen nicht anbrennen lässt, wie man die Führerscheinprüfung besteht, wie man mit weniger Geld auskommt, als man gerne hätte, oder mehr davon bekommt, als man hat. Wir haben gelernt zu gehen, zu sprechen, zu lesen, zu schreiben und zu rechnen, wir haben gelernt, im städtischen Verkehrschaos zu überleben und ins richtige Geschäft zu gehen, wenn wir etwas kaufen wollen. Wir haben gelernt, wie man lernt.

Wir besuchen Schulen, Universitäten, Volkshochschulen, wir absolvieren Seminare, Kurse, Lehrgänge, wir bestehen Prüfungen und erwerben Zertifikate. Wir sind auf ‚lebenslängliches‘ Lernen eingestellt und der schnelle Wechsel der Konsumgewohnheiten, weltanschaulichen Modetrends, technischen Innovationen und beruflichen Veränderungen hält uns in einem Zustand permanenter Um- und Neuorientierung. Wir lernen auch, wenn wir gar nicht bemerken, dass wir lernen: wie sich durch die Beschäftigung mit bildender Kunst unsere Farbwahrnehmung verfeinert, wie wir beim Bergsteigen unsere Schritte immer sicherer ins Gelände setzen, wie sich durch die Lektüre spannender Bücher unser sprachlicher Ausdruck verändert, wie es uns gelingt, in der Kommunikation mit anderen Menschen Missverständnisse zu vermeiden. Wir lernen selbst dann, wenn wir uns strikt weigern zu lernen: Dann lernen wir beispielsweise, wie man eine solche Weigerung am besten verwirklicht, ohne durch sie allzu großen Schaden zu erleiden und wie man sie ggf. durch Argumente rechtfertigen oder praktisch verteidigen kann. Wir lernen, wie man sie besonders lautstark kundgibt oder vor allen verheimlicht. Man könnte also sagen: Wir können gar nicht verhindern, unablässig zu lernen.

Vor diesem Hintergrund müssten wir eigentlich alle profilierte Experten des Lernens sein. Wozu also soll es gut sein, auch noch ein Buch darüber zu lesen? Ist es nicht unumgänglich, dass wir nach so vielen Jahren eigenen Lernens in allen Lebenslagen und Fähigkeitsbereichen schon alles Wichtige über das Lernen wissen? – Wissen wir schon alles Wichtige?

Was immer wir denken, es baut auf bestimmte Vorannahmen und Logiken auf, die in diesem Wissen selbst nicht gleichzeitig bedacht werden können und daher oft gar nicht bedacht werden. Das gilt selbstverständlich auch für unser Denken über das Lernen. Wenn wir uns heute am Beginn des 21. Jahrhunderts etwa einen lernenden Menschen vorstellen, so gerät er uns ganz schnell zum gestressten Konkurrenzkämpfer der neoliberalen Ökonomie, der aus Gründen blanker Überlebensnot zu lebenslänglicher Umschulung und Daueranpassung verurteilt ist. Ein Lernender erscheint uns dann auf sich allein gestellt, für alles in seinem Leben selbst verantwortlich, permanent so effizient wie möglich allen möglichen Anforderungen hinterher eilend, um sich im Kampf um knappe Ressourcen einen Vorsprung zu sichern – vor allen anderen ebenso gehetzt sich anpassenden und umqualifizierenden Zeitgenossen. Lernen soll interessant und befriedigend sein? Vielen entlockt das heute nur ein mitleidiges Lächeln.

Doch nicht nur die Ich-AG, auch die junge Mutter in den Slums von Soweto lernt, der Indianerhäuptling am Amazonas, das Sámimädchen am nördlichen Polarkreis, der Novize des tibetischen Klosters. Sie lernen nicht nur anderes, sondern auch anders, weil ihre Kultur andere Lebenspraxen, andere Menschenbilder, andere Sinnhorizonte und damit auch andere Verständnisse von Lernen entwickelt hat. Dennoch gleicht ihr Lernen in vielen Aspekten dem unsrigen aber auch wie ein Ei dem anderen. So selbstverständlich das Phänomen Lernen auf den ersten Blick also erscheinen mag, so vieldeutig, komplex und unbestimmt kann es bei genauerem Hinsehen werden und so vielfältig werden auch die möglichen Antworten auf die Frage, was da eigentlich vor sich geht, wenn wir das tun, was wir gewöhnlich als Lernen bezeichnen. Einige dieser Antworten werden hier in acht umfangreichen Kapiteln entfaltet: (1) Die Praxis des Lernens: Probieren, Imitieren, Reflektieren, (2) Unerkannter Ausgang, schweigsamer Verlauf: Die unauffällige Seite des Lernens, (3) Blockade, Krise, Suchbewegung: Die thematische Seite des Lernens, (4) Das Subjekt des Lernens, (5) Der Sinn des Leibes, (6) Der Sinn der Anderen, (7) Der Sinn der Dinge, (8) Der Sinn der Zeichen.

 

Hier finden Sie weitere Informationen sowie einen Link zu Inhaltsverzeichnis und Vorwort.