Veröffentlicht am 19.08.24
«Viele Kinder wollen nicht mehr leisten»
Der Erziehungswissenschafter Roland Reichenbach. Bild: Karin Hofer (NZZ)
Interview mit dem Erziehungswissenschafter Roland Reichenbach
Die Einsicht, dass man sich in der Schule auch anzustrengen habe, sei heute ein Stück weit verlorengegangen, sagt Erziehungswissenschafter Roland Reichenbach. Und dass Parteien und Lehrer jetzt die Abkehr von der integrativen Schule fordern, überrascht ihn «überhaupt nicht». Matthias Meili (Text), Karin Hofer (Bilder). In: NZZ am Sonntag vom 18.08.2024. Mit Dank für die Freigabe zur Übernahme des Interviews.
«Wir erleben in der westlichen Welt eine Krise des Gemeinsinns und eine Krise der Autorität. Vor allem die letztere trifft den Lehrerberuf im Kern.»
Herr Reichenbach, Sie sind selbst ausgebildeter Primarlehrer. Würden Sie gerne noch einmal unterrichten?
Ja, sehr gerne, aber, ehrlich gesagt, nur für ein paar Wochen. Die Schule ist ein Ort der emotionalen Vielfalt. Fast jeden Tag erlebt man hier das ganze Gefühlsspektrum, von Erfolgs- und Glücksmomenten bis zur Angstattacke und wieder zurück. Vor einigen Jahren wurden Berufsleute aus allen Branchen nach dem subjektiven Erleben ihres Alltags befragt. Dabei zeigte sich, dass die Lehrpersonen ihren Beruf als am wenigsten langweilig erlebten. Ironisch nur, dass Schülerinnen und Schüler manchmal sehr unter Langeweile leiden.
Die Schule in der Schweiz steht derzeit unter heftiger Kritik.
Schulkritik ist eine Konstante. Mich stört, dass sie zurzeit meist nur den Aspekt der Lernleistungen betrifft. Dabei hat die Schule auch andere Funktionen und eine tiefere Bedeutung für die Gesellschaft als die Vermittlung von Kompetenzen. Nehmen wir die Aufbewahrungsfunktion. Wüssten die Eltern nicht, dass ihre Kinder in der Schule sicher versorgt sind, würde die Wirtschaft in Teilen praktisch zusammenbrechen.
Die zentrale Aufgabe ist dennoch die Pädagogik, oder nicht?
Die pädagogischen Aufgaben der Schule sind vielschichtig, und nicht jede Funktion der Schule ist eine primär pädagogische. Die Vermittlung von Wissen ist ein Teil, die Persönlichkeitsbildung der Kinder ein anderer. Dann gibt es die Selektionsfunktion, die pädagogisch und ethisch problematisch ist. Denn eine der zentralen gesellschaftlichen Aufgaben der Schule besteht darin, dass am Ende der Schulzeit nicht alle Jugendlichen die gleiche Zugangsberechtigung für weitere Bildung und Ausbildung haben sollen.
Wie bitte? Das widerspricht doch der breit akzeptierten Forderung nach Bildungsgerechtigkeit.
Über Bildungsgerechtigkeit wird seit sehr langem gestritten, aber sie konnte bisher nicht hergestellt werden. Und das wird sie auch nicht. Das sieht man zum Beispiel beim Übertritt ins Gymnasium. Klar, die Lehrpersonen mögen denken, dass sie die individuellen Leistungen der Kinder und Jugendlichen gerecht prüfen und beurteilen. Aber es ist doch erstaunlich, dass immer genauso viele Schülerinnen und Schüler weiterkommen, wie es dort Platz hat.
Vorstösse von Lehrpersonen und politischen Parteien wollen eine Denkpause, kritisieren den Lehrplan 21 und fordern zum Beispiel die Abkehr von der integrativen Schule. Wieso jetzt?
Das überrascht mich überhaupt nicht. Mich erstaunt vielmehr, dass es die Lehrpersonen und Eltern so lange ausgehalten haben. Ich denke, viele Lehrpersonen sind zwar unzufrieden, getrauen sich jedoch nicht, Kritik zu äussern.
Die Lehrpersonen klagen zunehmend über Stress und Burnout.
Das ist so. Dazu trägt auch bei, dass der Beruf leider viel von seiner gesellschaftlichen Reputation verloren hat. Wenn eine Lehrerin früher beim Small Talk von ihrem Beruf erzählte, wurde sie noch beneidet, auch wenn es nur wegen der Ferien war. Heute erntet sie vor allem Mitleid.
Was sind die Gründe?
Wir erleben in der westlichen Welt zwei grosse Umwälzungen: eine Krise des Gemeinsinns und eine Krise der Autorität. Vor allem die letztere trifft den Lehrerberuf im Kern. Denn wir wissen, wie wichtig die Autoritätsanerkennung der Lehrperson durch die Schülerinnen und Schüler sowie durch deren Eltern für die Anstrengungs- und Lernbereitschaft ist. Doch die personale Autorität wurde weitgehend durch anonyme, unpersönliche Formen der Autorität ersetzt: etwa spezifische lehrinhaltliche Vorgaben oder konkrete Richtlinien des guten Lernens, zum Beispiel durch den Lehrplan 21.
Schon vor dem Lehrplan 21 gab es einen Lehrplan, der die Ziele absteckte.
Tatsache ist, dass der Lehrplan früher vor allem eine bildungspolitische und -administrative Rolle spielte. Die meisten Lehrpersonen kannten ihn doch nicht einmal und gestalteten den Unterricht nach angeeigneten Routinen. Doch mit dem Pisa-Schock änderte sich das. Plötzlich meinte man es ernst mit der penibel-konkreten Umsetzung des neuen Lehrplans. Alle haben sich nun daran zu halten.
Was war der Pisa-Schock?
Bei den ersten Pisa-Tests der OECD im Jahr 2000, die den Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler international erhoben, haben die Schweiz und Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern eher schlecht abgeschnitten. Das war ein Schock, zumal wir immer besonders stolz auf unser Bildungssystem waren. Darauf setzte vor allem in Deutschland ein richtiger Katastrophendiskurs ein. Frankreich dagegen reagierte erstaunlich gelassen, obwohl die Resultate nicht besser waren. Sie sagten «tant pis», die Resultate sind ja «nur» im internationalen Vergleich nicht so rosig. Die Deutschen und mit ihnen auch die Deutschschweizer organisierten hingegen ein politisches Drama.
Welche Folgen hatte das?
Die Idee war, mit dem Kompetenzansatz die schulischen Leistungen zu verbessern. Dahinter steckt die Forderung der OECD, die Bildungssysteme vergleichbarer zu machen. Dabei muss man sich daran erinnern, dass die OECD naturgemäss vor allem die wirtschaftliche Entwicklung fördern will. So wurden internationale Leistungsstandards definiert, in deren Zentrum die Kompetenzen stehen. Das Resultat dieses Prozesses ist der Lehrplan 21, mit welchem die Kompetenzen höher gewichtet werden als der «blosse» Wissenserwerb.
«Es kommt sehr viel weniger auf die Strukturen und Methoden an als auf die Menschen, die im Schulsystem arbeiten.»
Was ist falsch an Kompetenzen in einer modernen Leistungsgesellschaft, in der sogenannte Soft Skills immer wichtiger werden?
In Deutschland arbeitet man nun seit 20 Jahren mit dem Kompetenzansatz, und er hat insgesamt keine Verbesserung gebracht. Auch in der Schweiz wird der Lehrplan 21 in einigen Kantonen nun seit Jahren umgesetzt. In manchen Fächern wie der Mathematik haben sich die Ergebnisse in der letzten Pisa-Studie zwar leicht verbessert. Aber in den Sprachkompetenzen verfügt fast ein Viertel der Schulabgängerinnen und -abgänger beim Schriftverständnis und bei der Ausdrucksweise nur über ungenügende Fähigkeiten. Das ist ein höchst bedenkliches Ergebnis.
Was läuft denn schief?
Tendenziell stellen wir eine Abschwächung des Erwerbs von Wissen und der elementaren Kulturtechniken fest. Die Hausaufgaben des Bildungssystems liegen in diesen beiden Bereichen.
Der Lehrplan 21, die Harmonisierung und viele Schulreformen sind aber in mehreren Abstimmungen auch vom Volk gutgeheissen worden, zum Teil sehr deutlich.
Dinge absegnen, die man nicht richtig versteht, gehört zur Demokratie. Und wenn sich in Abstimmungsfragen nicht einmal die Fachleute einig sind, wie soll dann jemand wissen, der sich nicht eingehend mit der Materie beschäftigt hat, worüber er eigentlich abstimmt? Dennoch bin ich ein fixfertiger Anhänger der schweizerischen Demokratie. Zwar trägt sie dilettantische Züge, doch die sind hinzunehmen. Und politische Bildung kann auch nicht alles lösen.
Müsste man den Lehrplan 21 noch einmal grundsätzlich diskutieren?
Das wird nicht geschehen und würde wohl auch wenig bringen. Lehrpläne werden vielmehr ganz ersetzt. Das ist eine Frage der Zeit. Im Übrigen gibt es keine lineare Wirkung eines Lehrplans auf das Lernen der Kinder.
Das müssen Sie erklären.
Schon der Weg vom Lehrplan zu den Lehrmitteln ist lang. Welche und wie diese eingesetzt werden, das sind schon einmal erste Fragen. Dann spielt die Unterrichtsvorbereitung eine wiederum relativ unabhängige Rolle. Und dann gestaltet sich der konkrete Unterricht nie nach Schema X. Schliesslich bringen die Kinder und Jugendlichen ganz unterschiedliche Voraussetzungen mit. Vom Lehrplan zum konkreten Lernprozess führt keine gerade Linie. Der Lehrplan ist ungeeignet, um das Bildungssystem nach Gusto zu steuern. Die kontrollierte Steuerung des Bildungssystems ist letztlich eine Illusion.
Kritisiert wird auch, dass der Lehrplan 21 überladen ist.
Ich muss zugeben, ich war schon immer skeptisch gegenüber dem Lehrplan 21. Andere sehen das anders. Vor allem junge Pädagoginnen und Pädagogen finden immer wieder interessante Aspekte im neuen Lehrplan – sie kennen ja auch keine Alternativen. Natürlich existiert keine grundsätzliche Gegensätzlichkeit von Bildung und Kompetenzdenken. Doch die Anhänger des Kompetenzdiskurses haben sich insgesamt durchgesetzt. Mehrheit statt Wahrheit – das gehört auch zur Demokratie.
Vor den Sommerferien liess der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband in einer Medienmitteilung verlauten, dass nicht die Administration die grösste Belastung für die Lehrpersonen darstellt, sondern der Anspruch auf einen individualisierten Unterricht.
Der individualisierte Unterricht ist die Antwort der Schule auf die zunehmende Heterogenität in den Klassen. Damit sind die unterschiedlichen Voraussetzungen gemeint, welche die Kinder mitbringen. Dank dem sogenannten selbstorganisierten Lernen, bei dem jedes Kind in offenen Lernlandschaften selbst wählen kann, wie viel und in welchem Tempo es lernen will, sollte einerseits jedes Kind individuell nach seinen Bedürfnissen gefördert werden, andererseits sollte es sich dadurch die Lernkompetenz quasi selbst aneignen. Das alles tönt zwar gut, weil man denkt, dass es kindgerecht sei. Doch gerade leistungsschwächeren Kindern schaden solche offenen Lernformen – das ist meine Meinung, aber damit bin ich zum Glück nicht allein. Diese Kinder brauchten mehr Kontrolle, Anweisung und Ermutigung. Am Ende zementiert das scheinbar individualisierte Lernen bereits bestehende Leistungsunterschiede.
Was ist ein guter Unterricht?
Das Engagement der Lehrperson ist zentral, das zeigen alle Ergebnisse der Bildungsforschung. Viele sagen jetzt, das sei die alte Leier. Das macht diese Erkenntnis jedoch nicht weniger wahr.
Auch der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie zeigte in seiner Metastudie «Sichtbares Lernen» vor über 20 Jahren eindrücklich, dass die Lehrperson den grössten Einfluss auf den Lernerfolg der Kinder hat.
Das stimmt, aber diese Ergebnisse werden oft falsch verstanden. Wenn man die Resultate genau anschaut, hat guter Unterricht eben genau nicht mit der scheinbaren Individualisierung zu tun. Hattie zeigte vor allem, dass viel Kontrolle, viel Feedback, viel Ermutigung wichtig sind.
Und üben, üben, üben. . .
So ist es! Gute Beispiele sind Freizeitaktivitäten wie Sport oder Musik. Läuft es dort wie in der Schule? Nicht im Geringsten! Im Klavierunterricht diskutiert die Musiklehrerin sicher nicht, ob das Kind den Fingersatz anwenden möchte. Da wird gelernt und geübt, bis man diese Techniken mehr oder weniger beherrscht. Nur so kann man weiterkommen. Das Übungsethos und die Einsicht, dass man sich in der Schule mitunter auch anzustrengen hat, sind heute ein Stück weit verlorengegangen.
Auch beim selbstorganisierten Lernen spielt die Lehrperson eine wichtige Rolle. Lerncoachs sind wichtige Bezugspersonen für die Kinder und fördern sie gezielt?
Die Idee ist, dass der Lerncoach – was für ein fürchterliches Wort – beim sogenannten Micro-Teaching von jedem Kind zu jeder Zeit genau weiss, wo es genau steht. Doch die Lehrpersonen in der Regelschule haben schlicht gar nicht die Zeit dazu. Zudem muss man auch lernen, gewisse Unterschiede zu akzeptieren. Die Ansprüche an die Kinder sind gestiegen. Doch viele Kinder wollen oder können gar nicht mehr leisten.
Was ist denn die Lösung?
Es kommt sehr viel weniger auf die Strukturen und Methoden an als auf die Menschen, die im Schulsystem arbeiten. Wenn die Lehrpersonen motiviert und engagiert sind, wenn sie an die Lernfähigkeit der Kinder glauben und wenn sie eine gute Freiheit in der Unterrichtsgestaltung haben und – ganz wichtig – auch einen ausreichenden gesellschaftlichen Rückhalt geniessen, ist viel gewonnen. Eine grosszügige Autonomie in der Lehre muss gegeben sein.
Überhöhen Sie nicht die Bedeutung der Lehrperson?
Nein. Natürlich könnten manche Kinder den Schulstoff zu Hause am Computer individuell gezielter und schneller lernen als in der Schule. Aber ohne Klassenzimmer, ohne Schulgemeinschaft und die damit verbundenen Rituale und auch individuellen Opfer, ohne die zahlreichen Erfahrungen mit den teilweise störenden Eigenarten der Lehrpersonen hätten diese Kinder am Ende sehr wenig vom Leben verstanden, also von sich und der Welt.
Zur Person
Roland Reichenbach
Der 61-Jährige ist seit 2013 Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich. Nach seiner Primarlehrerausbildung studierte Reichenbach Klinische Psychologie und Philosophische Ethik und habilitierte sich an den Universitäten Stanford (USA) und Montréal (Kanada) zum Thema der demokratischen Bildung. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Bildungs- und Erziehungsphilosophie sowie die politische Bildung.
Tags: Bildungsgerechtigkeit > Kompetenzansatz > Lehrplan 21 > OECD > Schlagwörter Bedeutung der Lehrperson
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