Veröffentlicht am 24.08.16

Sprachkompetenz im Mathematikunterricht. Welche und wieviel Sprache braucht die Mathematik?

Ein PROFIL-Beitrag von Wolfgang Kühnel

Überall kann man sehen, dass Mathematikaufgaben heute meist mit langen Texten versehen werden, und dass Aufgaben zur mathematischen Modellierung viel Kontext erfordern, dessen Formulierung eben gute Sprachkenntnisse voraussetzt. Konkret führt das leider dazu (mehr als in anderen Ländern), dass Migrantenkinder in der Schule in Mathematik wegen ‘sprachlicher Hürden’ schlechter abschneiden (siehe Gogolin 2012, Prediger 2013). Warum in aller Welt müssen wir die Migrantenkinder selbst im Mathematikunterricht mit sprachlichen Problemen belasten, von denen es doch schon genug gibt? Sogar in der Presse wurde schon über zu komplizierte Texte mathematischer Abituraufgaben 2015 geklagt: »Besonders für Schüler mit nicht deutscher Muttersprache war das schwierig«, so wird eine Gymnasialdirektorin in Wien zitiert (Kurier 2015). Das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie war folgendes:

»Ein wesentliches Ergebnis dieser Studie war, dass Schülerinnen und Schüler beim Reproduzieren des mathematischen Sinns von Aufgaben, die im Deutschen als Zweitsprache angeboten wurden, deutlich mehr Intensität und Zeit zur Klärung von sprachlichen Detailmerkmalen der zu bearbeitenden Texte verwendeten als die einsprachigen Gleichaltrigen. Während Letztere für die Mathematisierung irrelevante sprachliche Teile der Aufgaben tendenziell unbeachtet ließen (und somit Zeit für mathematisches Tun gewannen), verfolgten Erstere eher die Strategie der Schritt-für- Schritt-Erschließung des Sinns der sprachlichen Darbietung und traten erst nach Abschluss dieser Tätigkeit in die mathematische Arbeit im engeren Sinne über.« (Gogolin 2012, S. 159)

Jeder kann in seiner Muttersprache rechnen, und es muss immer dasselbe herauskommen, das ist doch schön

Mit anderen Worten: Wer clever ist, lässt gleich den überflüssigen Text weg und konzentriert sich auf das, was man eigentlich machen soll. Gerüchten zufolge ist das auch der Ratschlag erfahrener Gymnasiallehrer. Den Migrantenkindern fehlt diese Art von Cleverness oft schon allein wegen der Sprache. Ist das nicht unfair? Wozu braucht man die von Gogolin zitierten »irrelevanten sprachlichen Teile«? Etwas sarkastisch formuliert: Erst schafft man ein Problem für die Migrantenkinder (die man doch eigentlich gar nicht schädigen will, im Gegenteil) durch die bombastischen Texte der angeblichen ‘Modellierungaufgaben’ (vgl. Kühnel 2015), und dann behauptet man, jetzt mehr Sprachförderung in den Mathematikunterricht einbringen zu müssen, natürlich zu Lasten des eigentlichen mathematischen Verständnisses. Warum denn nicht gleich Mathematikaufgaben ohne überflüssigen Text? Gerade ein kalkülmäßiges Bearbeiten von mathematischen Aufgaben ist sprachunabhängig: Jeder kann in seiner Muttersprache rechnen, und es muss immer dasselbe herauskommen, das ist doch schön. Warum sollen türkische Schüler das kleine Einmaleins oder die Regeln des ‘Buchstabenrechnens’ nicht auf Türkisch memorieren? Die Schriftzeichen für die Zahlen und Formeln sind zum Glück international immer dieselben, sogar in chinesischen Lehrbüchern. Sollte es dabei ‘kulturelle Unterschiede’ geben, so sind diese jedenfalls nicht dafür relevant, ob das Ergebnis bzw. der Rechenweg nun stimmt oder nicht. Ganz deutlich wird dies in den berühmten ‘Beweisen’ antiker Geometer, die eine Figur aufmalten und dann ‘Siehe!’ danebenschrieben. Jeder sollte die Figur ansehen und sich dann seinen Beweis selbst zusammenreimen, wobei es selbstverständlich auf eine bestimmte Sprache gar nicht mehr ankam. Das ist wahrhaft ‘internationale Verständigung’, fast so wie bei dem sprachlichen Wunder in der christlichen Mythologie zu Pfingsten.

In: PROFIL, Magazin des Deutschen Philologenverbandes, Ausgabe 06/2016

Der PROFIL-Beitrag als PDF: 6_2016_Kühnel_Sprachkompetenz_im_Mathematikunterricht