Veröffentlicht am 17.10.22

Quo vadis, Digitalisierung? Ein kritischer Blick auf das aktuelle Impulspapier II des Bildungsministeriums

Quo vadis, Digitalisierung? Ein kritischer Blick auf das aktuelle Impulspapier II des Bildungsministeriums

Schöne neue Welt, möchte man sagen, wenn man das neue „Impulspapier II. Zentrale Entwicklungsbereiche für das Lernen in der digitalen Welt“ des Ministeriums für Schule und Bildung NRW liest, das die Vorgaben für die weitere Durchdigitalisierung des Schulbetriebs in NRW zu exponieren sucht.

Liest man das Papier, so ergibt sich zunächst der Eindruck einer gnadenlosen Überforderung – insbesondere, aber nicht nur, der Lehrerinnen und Lehrer. Nicht nur soll die Digitalisierung offenkundig alle Probleme richten, die die Schülerinnen und Schüler und den Schulbetrieb allgemein belasten, sondern die Lehrer sollen sich auch auf eine umfassende, sich stets und schnell verändernde digitalisierte Arbeits- und Lernwelt einstellen, immer und immer wieder von neuem. Mein Eindruck ist, dass, wenn ich alle Anforderungen des Papiers umzusetzen versuche, bis zu meinem Lebensende mit nichts anderem mehr beschäftigt bin.

Permanente Verfügbarkeit und endlose Feedbackschleifen

Analoge haben durch digitale Lernarrangements ersetzt zu werden (die angeblich zu diskutierende didaktische Begründung dieses umfassenden Methodenwandels scheint mir eher den Charakter eines Feigenblatts zu haben); ich habe als Lehrer für permanente asynchrone Kommunikation zur Verfügung zu stehen – mit anderen Worten, ich habe Eltern und Schülern rund um die Uhr Rede und Antwort zu stehen; die digitalen Werkzeuge sollen nie endende Diagnosevorgänge anstoßen, die ich als Lehrer natürlich de facto immer pädagogisch verantwortungsvoll und zeitintensiv auswerten muss, denn keine Software wird mir die Arbeit abnehmen, wirklich ganzheitlich und individuell auf den Schüler zu schauen und maßgeschneiderte, pädagogisch durchdachte Lernpläne zu erstellen; überhaupt sollen die Individualisierung und das selbstgesteuerte Lernen durch die Digitalisierung weiter vorangetrieben werden, Gegenstände, deren praktische Umsetzbarkeit ebenso wie Wirksamkeit schon immer in Teilen diskutabel waren (wer soll die vielen individuellen Ergebnisse wann auswerten und rückmelden, und in welchem Setting?); „Kollaboration“, eines der 4 Ks (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken) – nebenbei ein furchtbares Wort, das historisch mit der Zusammenarbeit mit einer Besatzungsmacht konnotiert ist (ein besserer Begriff wäre „Kooperation“) – soll durch Nutzung immer neuer Lernplattformen gesteigert werden, was mich allein schon fragen lässt, wo denn die Wertschätzung konzentrierter Einzelarbeit und introvertierter Kinder hierbei bleibt.

Die Überschätzung des Digitalen

Nun haben viele Lehrer eine volle Stelle, Familie, bekleiden eventuell noch ein gesellschaftlich erwünschtes Ehrenamt und haben vielleicht noch Anderes zu organisieren und zu verwalten – für wen sollen diese Anforderungen bewältigbar sein? Muss ich mir als bereits professionellem, erfahrenen Lehrer das Etikett gefallen lassen, „professionalisiert“ werden zu müssen – das Wort von der „Professionalisierung“ des Lehrerberufs spukt in dem Dokument mehrfach herum – so, als hätte ich nie ein Examen abgelegt und würde nicht bereits seit Jahren erfolgreich unterrichten? Sind meine Fachkompetenzen, mein akademisches Studium, meine Begeisterung für meine Disziplinen nur unbedeutendes Beiwerk neben der „Hauptsache“ Digitalkompetenzen?

Was mich zudem irritiert, ist der ständige Hinweis, der „moderne“ Unterricht müsse sich unbedingt auf die Lebenswelt der Schüler einstellen. Stellt man sich diese bloß noch digital vor? Was ist mit Sport, kreativen Hobbys, ehrenamtlichen Engagements, Lesen? Kommen diese in der tiktokisierten Lebenswelt der Schüler nicht mehr vor? Vielleicht, in vielen Fällen: Aber müssen wir das auch noch fördern? Bringt der ständige Zeit-Invest in digitale Lebenswelten und Netzwerke wirklich Glück und Lebenserfüllung? Ist nicht vielmehr die Alltagserfahrung, dass die Schüler in den Sozialen Medien Lebenszeit verschwenden, Nabelschau betreiben und sich des Mobbings durch ihre Peers erwehren müssen?

Risiken und Nebenwirkungen der Gamification

Meine Befürchtung ist, dass, je mehr digitale Spielereien Einzug in die Unterrichtsfächer finden, deren fachliche Logik keiner Begründung durch die Digitalisierung bedarf, zentrale Kompetenzen wie sorgfältige Lektüre anspruchsvollerer Texte und vor allem die Fähigkeit, selbst sprachrichtige, strukturierte, durchdachte und reflektierte Texte zu produzieren – mithin Erlerntes in eigenen Worten korrekt und sinnhaft zu amalgieren – weiterhin immer weniger ausgebildet werden. Das führt dazu, dass wir Schülern die Hochschulreife verleihen – im Namen der „Chancengerechtigkeit“ soll dies ja bei einer stets steigenden Zahl geschehen – die nicht mehr studierfähig sind. Bei den meisten digitalen Fertigkeiten handelt es sich ja im Prinzip um relativ triviale Anwenderfähigkeiten. Inwieweit fördern diese ein vertieftes, text- und wissenschaftsbasiertes Verständnis geistes- und naturwissenschaftlicher Fächer? Und: Je mehr „angenehme“ Reize gesetzt werden für die Schüler – durch „Gamification“ und (im Prinzip meist frontalorientierte) Filme zum Beispiel – desto weniger dürften sie für grundlegende „Kärrnerarbeit“ empfänglich sein, konzentriertes, wissenschaftsbasiertes, propädeutischen Normen entsprechendes Arbeiten, das für die Studierfähigkeit eben unumgänglich ist.

Im Übrigen sind auch unsere Schüler durch die Möglichkeiten der asynchronen Kommunikation zusätzlich belastet. Nicht wenigen meiner Kollegen fällt am Vorabend ihres Unterrichts ein, den Schülern noch digital aufzugeben, bestimmte Sachen für den morgigen Tag mitzubringen oder zu erledigen. Meine Maxime ist: Was ich im Unterricht vergessen habe, das habe ich eben vergessen, und damit behellige ich meine Schüler nicht in ihrer Freizeit.

Gefahren für das Augenlicht

Eine weitere Sache, die völlig ausgeblendet wird, sind die konkreten körperlichen Folgen der Bildschirmarbeit, die sich ja nach den Vorstellungen des Impulspapiers immer mehr steigern soll, auf das Augenlicht: Augenärzte warnen vor grassierend um sich greifender Kurzsichtigkeit bei Jugendlichen, aber auch vor noch viel schlimmeren degenerativen Augenerkrankungen (Makuladegeneration) durch die verstärkte Bildschirmtätigkeit. Können, dürfen wir uns und unseren Kindern, den uns anvertrauen Schülern dies im Namen des „Fortschritts“ wirklich zumuten? Nur weil es ihrer angeblichen Lebenswelt entspricht und den angeblichen Erfordernissen einer Arbeitswelt, deren digitale Anwendungen sich ohnehin ständig verändern und in tatsächlich ergriffenen Berufsfeldern doch immer spezifisch neu erlernt werden müssen?

Dies sind nur einige der Aspekte, die bei den Prozessen um die Digitalisierung der Bildung berücksichtigt werden sollten und dringend diskutiert gehören. Jedenfalls dann, wenn wir und unsere Schüler weiterhin gesund, vertieft arbeitsfähig und auch glücklich werden oder bleiben wollen.

Andreas Augsburger, PhV-Vertrauenslehrer am Gymnasium, PhV-Bezirksgruppe Bochum/Hattingen/Witten NW, E-Mail: augsburgernbs@email.de

Der Beitrag ist (in geringfügig kürzerer Form) zuerst erschienen in: Bildung aktuell. Wir machen Schule. 3/2022/Ausgabe Mai, 73. Jg. 7108, 26 – 27. (Zeitschrift des Philologenverbandes NRW)