Veröffentlicht am 10.06.16

Niemand hat die Absicht, in Baden-Württemberg das Gymnasium abzuschaffen

Mit einem neuen Bildungsplan schafft die Landesregierung von Baden-Württemberg die Grundlage für eine Einheitsschule.

Ein PROFIL-Artikel von Thomas Rajh und Hans Peter Klein

Aus heiterem Himmel kommt die Forderung nach der sofortigen Integration auch des Gymnasiums in die Einheits-Gemeinschaftsschule aber nicht. Zu früh wäre zum jetzigen Zeitpunkt aus Sicht der um die Wiederwahl kämpfenden Regierung das öffentliche Bekenntnis dessen, was hier am Ende entstehen soll. Es ist derzeit anscheinend ein stilbildendes Merkmal rot-grüner Bildungspolitik in vielen der alten Bundesländer, vielfältige Hebel auf der Administrationsebene in Bewegung zu setzen, um im Verborgenen für Tatsachen zu sorgen. So hatte die Landesregierung bereits zur Einführung der Gemeinschaftsschule mit einem einfachen wie politisch effektiven Schachzug den Weg zum ersehnten Niedergang des dreigliedrigen Schulwesens im Südwesten kurz nach ihrer Wahl 2011 geebnet. Mit der simplen Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung wurde dem Ansturm auf die höheren Schularten der Weg frei gemacht. Die Haupt- und Werkrealschulen blieben seither weitgehend leer, der Plan ging auf. Fortan schickt verständlicherweise jeder sein Kind auf ein Gymnasium, wer immer eines in der Nähe hat. In der Realschule landet nur noch der, dem früher dringend der Übergang auf eine Hauptschule empfohlen wurde, weil er entweder nicht richtig lesen, schreiben oder rechnen konnte. Die meisten der ehemaligen und so durch Schließung bedrohten Hauptschulen, die ja vor allem in der Fläche des ländlichen Raums Zugang zu allgemeiner Bildung geschaffen haben und daher auch künftig unverzichtbar für die schulische Versorgung sind, wurden bereits zu Gemeinschaftsschulen umetikettiert. Sie konnten diesem auf die Brust gesetzten Junktim des Weiterbestandes schlechterdings keine Absage erteilen, was von der Landesregierung dann auch durch Beförderung der Schulleitungen in die nächst höhere Gehaltsklasse belohnt wurde. Ihre Schülerschaft ist freilich unverändert geblieben. Die an Gemeinschaftsschulen vereinzelt anzutreffenden Gymnasiallehrer rekrutieren sich dabei aus Junglehrern, die oftmals wegen nur mäßiger Abschlüsse an einem Gymnasium keine Stelle bekommen haben und aus solchen, die aus bildungspolitischer Überzeugung oder von pädagogischer Abenteuerlust getrieben werden. Man darf schon jetzt gespannt darauf sein, auf welchem Niveau die ersten Abiture dort ab 2024 abgelegt werden, sollten gleiche Standards denn überhaupt angelegt werden.

Konzepte der ‚Neuen Lernkultur‘

Das Ergebnis dieser Entwicklung zeigt sich auch in der sprunghaft angestiegenen Zahl von Sitzenbleibern am Gymnasium. Viele Schüler sind mit den Anforderungen einfach überfordert. Folglich wurde erst einmal das Sitzenbleiben in Klasse 5 und 6 einfach abgeschafft. Ähnlich dem Vorbild Nordrhein-Westfalen wird zusätzlich die Ausweisung mangelhafter Leistungen dem Lehrer zur Last gelegt. Die daraus resultierende pressewirksame Darstellung der Reduzierung dieser Quoten kommt in der Öffentlichkeit gut an. Dahinter verbirgt sich allerdings eine bildungspolitische Zeitbombe. Das Gymnasium in Baden- Württemberg ist zwar weiterhin die beliebteste Schulform. Um der aber auch dort immer stärker anwachsenden Zahl leistungsschwacher Schüler nicht mit Wiederholung von Jahrgangsstufen oder ‘Abschulen’ zu begegnen, wird ganz einfach das Anspruchsniveau soweit abgesenkt, dass möglichst alle zum Abitur geführt werden. Damit droht das Gymnasium zur neuen Einheitsschule mit deutlich verringertem Leistungsanspruch zu werden. Einer Übernahme in die Schulform der Gemeinschaftsschule steht dann nichts mehr im Weg. Den Eltern, die ihr Kind nun mangels pädagogischer Verbindlichkeit zum größtmöglichen Bildungsglück auf den Weg zur Reifeprüfung schicken, ist kein Vorwurf zu machen. Das Heilsversprechen von der freien Wahl der Schulart nutzt die elterlichen Hoffnungen aus, um politische Tatsachen zu schaffen, welche die Gründung eines Einheitsschulwesens legitimieren sollen.

 

in: PROFIL, Magazin des Deutschen Philologenverbands, Ausgabe 05/2016
Der vollständige Beitrag als PDF: Rajh_und_Klein: Niemand hat die Absicht