Veröffentlicht am 29.09.24

Neue Avantgarde: Lernen mit Stift und Papier statt Tablet

Über die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Expertise und Schulpraxis

Die Bildungspolitik in Deutschland – und auch in der Schweiz – läuft den europäischen und internationalen Entwicklungen hinterher. In vielen Ländern geht es nicht mehr um Konzepte der Frühdigitalisierung oder die 1:1-Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit Endgeräten. Im Gegenteil! Diese Staaten ersetzen in ihren Schulen Laptops und Tablets durch gedruckte Bücher und Schreibhefte; sie verbieten private Smartphones und sperren das Internet. Was ist passiert?

Von Ralf Lankau, in: Weltwoche (CH) Nr. 37-24. S. 28-29

 

Kinder als Versuchskaninchen

Schweden war, wie viele skandinavische und baltische Länder, Vorreiter der Frühdigitalisierung. Man war überzeugt: Die Digitalisierung habe positiven Effekte auf das Lernen, die Qualität des Unter­richts würde durch Technik verbessert. Alle Kinder sollten digitale Kompetenzen ent­wickeln, um aktiv am Unterricht und am sozialen Leben teilnehmen zu können und gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Die nach der letzten Wahl neu ins Amt der schwedischen Bildungsministerin berufene Lotta Edholm wollte diesen Weg fortsetzen, bat aber zuvor das Karolinksa-Institut, eine der führenden wissenschaftlichen Einrichtungen in Schweden, um deren Einschätzung.

Der Bericht war für die schwedische Bildungspolitik verheerend. Die Annahme positiver Aspekte durch die Digitalisierung sei nicht „evidenzbasiert“, d.h. beruhe nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen. Die Nationale Bildungsagentur scheine sich nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt habe, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler habe. Lotta Engholm revidierte daraufhin die Entscheidung der schwedischen Regierung, Vorschulen verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten, ließ Schulbücher drucken und diese an die Schulen verteilen.

Aus pädagogischer Perspektive sind die Konzepte des Beschulens am Display asozial und kontraproduktiv.

Die Erkenntnis, dass die Versprechen von IT-Wirtschaft und weltweit agierender EdTech-Unternehmen für Bildungseinrichtungen nicht mit der Unterrichtspraxis korrespondieren, lässt nicht nur Lotta Engholm umdenken. Der dänische Minister für Kinder und Bildung, Mattias Tesfaye, entschuldigte sich im Dezember 2023 öffentlich dafür, dass die dänische Regierung Jugendliche zu „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gemacht habe. Man habe sich den großen Tech-Konzernen unterworfen und sei als Gesellschaft zu „verliebt gewesen in die Wunder der Digitalwelt“. Jetzt müsse man, zum Schutz der Kinder und Jugendlichen, dringend umsteuern. Dazu hat die dänische Agentur für Bildung und Qualität Empfehlungen zur deutlich eingeschränkten Bildschirmnutzung für Grundschulen und außerschulische Programme formuliert. Dazu gehören u.a. smartphonefreie Schulen, der Einsatz analoger Medien und Raum für bildschirmfreies Lernen.

Im April 2024 wurden die von der französischen Regierung in Auftrag gegebene Studie „Enfant et écrans“ (Kinder und Bildschirme) publiziert. Gefordert wird ein generelles Verbot digitaler Medien für Kindergärten. Kinder unter 14 Jahren sollten kein Smartphone bekommen, allenfalls ein Handy ohne Internetzugang. Heranwachsende ab 15 Jahren sollten nur nicht-kommerzielle und moderierte soziale Netzwerke wie Mastodon nutzen. Der Zugang zu profitorientierten Netzwerken wie Instagram, Facebook, Snapchat oder TikTok solle erst mit 18 Jahren erlaubt sein.

Die Ideologie aus Fortschrittsglauben und Technikfixierung blendet die Realität an Schulen konsequent aus.

Die UNESCO hat den Einsatz von Digitaltechnik in Schulen weltweit untersucht und die Ergebnisse mit dem Bericht „2023 Global Education Monitor“ vorgelegt. Im Untertitel steht die zentrale Frage: „Technologie in der Bildung: Ein Werkzeug zu wessen Nutzen?“ Das Ergebnis: Bei den aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen stünden nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt, sondern wirtschaftliche Interessen der IT-Anbieter und Aspekte der Datenökonomie. Unparteiische Erkenntnisse über die Auswirkungen der Bildungstechnologie seien Mangelware, ein Großteil der Studien mit positiven Ergebnissen sei von den Anbieter dieser Technologien selbst finanziert. Unabhängige, kritische Analysen würden bestritten.

Der Bildungsausschuss des britischen Unterhauses „House of Commons“ hat im Mai 2024 die generellen Auswirkungen von Bildschirmzeiten (Screen Time) auf Bildung und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren analysiert und konkrete Empfehlungen für Schulträger, Eltern und den Gesetzgeber formuliert. Gefordert wird auch für Großbritannien ein vollständiges Smartphoneverbot in Schulen und das Hochsetzen des Schutzalters. Social Media-Dienste sollten erst mit 16 Jahren zugänglich sein, die Anbieter müssten gesetzlich zu einer funktionierenden Altersverifikationen verpflichtet werden. Das Sammeln von Nutzerdaten zur Profilierung dürfe erst ab diesem Alter zulässig sein und nicht wie bisher schon bei 13-Jährigen.

Der Hype um Künstliche Intelligenz

Das wäre auch das richtige Alter für die seit November 2022 gehypte „generative Künstliche Intelligenz“ (genAI) und Programme wie ChatGPT & Co., weil man erst etwas können und wissen muss, bevor man sinnvoll damit arbeiten kann. Aber Marc Andreessen und Ben Horowitz, Investoren für KI-Startups, schreiben zum automatisierten Beschulen per KI: „Jedes Kind wird einen KI-Tutor haben, der unendlich geduldig, unendlich mitfühlend, unendlich sachkundig und unendlich hilfreich ist. Der KI-Tutor wird jedem Kind bei jedem Schritt seiner Entwicklung zur Seite stehen und ihm helfen, sein Potenzial mit der maschinellen Version der unendlichen Liebe zu maximieren.“ Doch nicht nur Kinder in der Schule, alle Menschen hätten jederzeit einen KI-Assistenten als Coach, Mentor, Berater oder Therapeuten dabei, so Andreessen. Der sprechende Supercomputer HAL aus Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ ist Wirklichkeit geworden.

Dabei ist ChatGPT nur ein Update der SprachBots, die Joseph Weizenbaum 1966 am MIT veröffentlichte. Die Reaktionen auf ELIZA hätten ihm allerdings „deutlicher als alles andere bis dahin Erlebte gezeigt, welche enorm übertriebenen Eigenschaften selbst ein gebildetes Publikum einer Technologie zuschreiben kann oder sogar will, von der es nichts versteht“.

Pädagogik ist kein Rechenexempel

Norbert Wiener, Ideen- und Namensgeber der Kybernetik, die erst 1956 aus Marketinggründen in Artificial Intelligence (AI) umbenannt wurde, warnte bereits 1948 davor, dass diese Technologie „in die Hände der verantwortungslosesten und käuflichsten unserer Techniker“ gelangen könnte. Das ist nun passiert. Wissenschaftler aus den USA und Deutschland fordern Moratorien, um über KI zu diskutieren. ChatBots sind laut Judith Simon (Mitglied im Deutschen Ethikrat) „ein riesiges Sozialexperiment“. Aus pädagogischer Perspektive sind sowohl die Konzepte des individualisierten Beschulens am Display wie der Einsatz von KI-Tutoren asozial und kontraproduktiv.

Das positiv konnotierte „Jeder lernt in seiner Geschwindigkeit und bekommt immer die individuell berechnet Hilfe“ bedeutet soziale Isolation. Es verhindert Gemeinschaftserfahrung im Klassenverbund. Der soziale Raum Schule wird aufgelöst zum Aufenthaltsraum für „digitale Einzeller“ (der Schweizer Pädagoge Carl Bossard) an ihren Arbeitsplätzen. Mit Hilfe digitaler Werkzeuge eignen sie sich Kompetenzen an, um sich nach dem neoliberalen Konstrukt der Selbstoptimierung als Humankapital für den Arbeitsmarkt zu optimieren. Das funktioniert zwar nicht. Die Lernleistungen sinken seit Jahren konstant, das „selbstorganisierte“ Lernen überfordert viele Kinder und selbst Studierende. Aber die Ideologie aus Fortschrittsglauben und Technikfixierung in Deutschland blendet die Realität an Schulen konsequent aus.

Lernen ist ein individueller und sozialer Prozess, der nicht digital kompensiert werden kann.

„Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten,“ hat Albert Einstein formuliert. Wahnsinn ist auch der passende Begriff für eine Bildungspolitik, die seit mehr als 40 Jahren auf Technik setzt und jede Generation von Digitaltechnik mit immer gleichen Argumenten (vermeintlich modern, lern- und motivationsfördernd) in die Schulen drückt.

Zum Denken lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir aber ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So formulierte es jedenfalls Immanuel Kant in seinem Text „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen könnten. Zum Nach-, Mit- und Selbstdenken brauchen wir echte Begegnungen. Lernen ist ein individueller und sozialer Prozess, der nicht digital kompensiert werden kann. Medien und Medientechnik können Lernprozesse partiell unterstützen, aber wir lernen durch das Miteinander.

Humanpakt Bildung statt Fixierung auf Technik

Statt weiterer Digitalpakte brauchen wir einen «Humanpakt Bildung», bei dem Menschen als Persönlichkeiten und Individuen im Mittelpunkt stehen, nicht Technik und partikulare Geschäftsinteressen. Die Nachbarländer haben es realisiert und entsprechend reagiert. Und Deutschland? Es stattet Kitas und Schulen mit Tablets aus, um bekannte Fehler zu wiederholen. Viele Schweizer Kantone und Gemeinden steuern im gleichen Fahrwasser. Notwendig wäre ein Blick auf den internationalen Kurswechsel in Primarschulen: Es ist die (Rück-)Besinnung auf den Wert des analogen Unterrichts.

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Links

AI Moratorium: To avoid an existential catastrophe, large AI training runs have to be stopped until scientists consider it safe to proceed

Future of Life Institute – Pause Giant AI Experiments: An Open Letter

Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.: Wissenschaftler fordern Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen