Veröffentlicht am 23.09.25

Integrative Schule – dysfunktional und ineffizient?

Die Lernleistungen der Schüler sinken, obwohl immer mehr Geld in die Bildung fliesst. Das ist alarmierend. Die Diskussionen drehen sich meist um organisatorische und strukturelle Fragen. Dabei geht vergessen, worum es im Kern geht: das Lernen.

Von Gerhard Steiner und Carl Bossard, in: NZZ vom 22.09.2025, S. 8

Noch nie war so viel von Kompetenzen die Rede wie heute und gleichzeitig so wenig von Lernen. Ein fast vergessenes Wort und ein grundlegendes zugleich. Was aber bedeutet es? Einfach gesagt, ist Lernen das Integrieren neuer Information in bestehendes Wissen. Dies geschieht durch zwei Hauptprozesse:

Verstehen und Festigen. Beim Verstehen bauen wir neues Wissen auf, beim Festigen behalten wir es und rufen es ab. Diese beiden Prozesse bilden die Grundpfeiler jeglichen Lernens. Verstehen, Behalten, Erinnern und Anwenden von Wissen und Können sind die bekannten Teilprozesse des Lernens. Entscheidend aber sind jene mentalen Aktivitäten, die innerhalb dieser vier Bausteine und zwischen ihnen ablaufen: die Mikroprozesse des Lernens. Richtig eingesetzt, bewirken sie, dass die Informationen aus dem Unterricht gedächtnisgerecht verarbeitet werden.

Lernen im Unterricht bedeutet sehr oft den Aufbau von Bedeutungen. Dabei sind vor allem die folgenden Mikroprozesse involviert:

  • Verknüpfen dient dem Integrieren neuer Informationen in schon vorhandenes Wissen;
  • Ordnen (Strukturieren) gewährleistet die Übersicht über das Wissen;
  • Verdichten schafft Speicherraum im Gedächtnis, und
  • «Wieder-Auspacken» ist immer dann nötig, wenn Wissen erneut gebraucht wird.

Unterricht lebt von den Mikroprozessen

Die Vielfalt der Mikroprozesse ist immens. Sie ist abhängig von den individuellen Fähigkeiten der Lernenden und der Art, wie die Lehrperson sie im Unterricht mobilisiert, dazu auch von der Komplexität des Lerninhalts. Manche Lehrkräfte – oft in Schnellkursen auf ihre Aufgabe vorbereitet – haben von diesen anspruchsvollen Vorgängen kaum klare Kenntnis. Jeder Unterricht lebt aber von diesen Mikroprozessen.

Gut ausgebildete Lehrer und Heilpädagogen wissen, wie empfindlich diese kleinen Prozesse gegen Störungen im Unterricht sind. Sie haben ein Gespür für diese feinen Abläufe und wissen, wie sie sie didaktisch nutzen können. Dieses Wissen erleichtert die klare Analyse des Lernstoffs, ermöglicht die Planung zusammenhängender und effektiver Lernverläufe und unterstützt eine professionelle Diagnose des Lernprozesses. Dadurch erweitern sie ihren Blick auf das schulische Lernen und dessen Voraussetzungen.

Schulanfänger bringen unterschiedliche mentale und soziale Ressourcen sowie Defizite mit. Diese haben sich über viele Jahre in ihren individuellen Lernbiografien entwickelt. Genetische Voraussetzungen und vielfältige Interaktionen mit der sozialen und materiellen Umwelt beeinflussen diese Entwicklung. Unterschiedlich strukturierte Familien und kulturelle Kontexte spielen dabei eine wichtige Rolle; sie variieren stark in ihrer Qualität und Dichte.

Die Vielfalt der Lernfähigkeiten in heutigen Schulklassen überrascht nicht. Viele Kinder haben Lücken in den Grundlagen oder entwickeln diese über Jahre hinweg unzureichend. Diese Defizite lassen sich nicht in wenigen Stunden oder Tagen durch spezielle Förderung aufholen, ausgleichen oder beheben.

Die Schule als «Disco-Betrieb»

Die Integrative Schule verfolgt genau dieses Ziel; notwendig ist ein sehr hoher Ressourceneinsatz. Im Mittelpunkt stehen die Kinder mit Förderbedarf und die Bewältigung ihrer kognitiven, sprachlichen und sozialen Defizite. Dies führt oft zu einem organisatorisch und heilpädagogisch beträchtlichen Aufwand. Eine erfahrene Klassenlehrerin beschreibt es treffend als «Disco-Betrieb».

Charakteristisch für die Fördermassnahmen sind

  • die Individualisierung und somit auch Separierung der Betroffenen;
  • die häufige Unterbrechung der Kontinuität des Lernflusses, das heisst des zeitlichen und inhaltlichen «roten Fadens», der sich durch jedes effiziente Lernen zieht. Besonders anfällig auf solche Unterbrüche ist die Nahtstelle zwischen Regelklasse und Förderunterricht. Präzise Diagnosen, koordinierte Zielsetzungen und lernprozessbezogene Rückmeldungen fehlen oft. Diese Mängel führen zwangsläufig zu Ineffizienz und machen das System dysfunktional.
  • Ein weiteres Merkmal der Fördermassnahmen ist die «Tropfenzähler-Didaktik»: kurze, punktuelle und meist nur auf isolierte Zielsetzungen ausgerichtete Massnahmen. Sonderförderung darf keinesfalls homöopathisch verabreicht, sondern muss mit grosser Kelle angerichtet und konzentrierten Kräften, also sehr intensiv und gezielt langfristig, durchgeführt werden. Doch die Devise scheint zu lauten: Hauptsache, es wird gefördert; in der Regel aber fehlen die Evaluationen.
  • Noch bedenklicher ist die notorisch niedrige oder gar fehlende Übungsdichte, die auf eine lernpsychologisch wenig bewusste Unterrichtsführung zurückzuführen ist. Diese systemimmanente Dysfunktionalität führt zu zahlreichen diagnostizierten Lernproblemen, die sich mit einer deutlich höheren Übungsdichte beheben liessen. «Üben» ist zum Fremdwort geworden – mit fatalen Folgen.
  • Dazu kommt der enorm hohe Personalaufwand der integrativen Schule: Die Klassenlehrerin wird von einer Heilpädagogin unterstützt, dazu von einer IF-Lehrperson (integrierte Förderung) oder einer Klassenassistenz, manchmal hilft auch ein Zivildienstler. Doch der Lernerfolg verhält sich nicht proportional zur Anzahl involvierter Personen. Zu viele Köche verderben den Brei, vor allem wenn sie nie richtig kochen gelernt haben.

 

Zu viele Reize

Die Kontinuität der Lernprozesse ist kein beliebiger Faktor, sondern eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Wissen kohärent vernetzt wird. Diese Netzwerke bilden die Basis für Fähigkeiten wie verstehendes Lesen, das Erfassen der Kernaussagen eines Textes, das klare Formulieren eigener Gedanken, das Lösen rechnerischer Aufgaben mit Algorithmen oder das Umsetzen von Anleitungen in konkrete Handlungen. Häufige Unterbrechungen zerstören systematisch sowohl die zeitliche als auch die inhaltliche Kontinuität. Das spiegelt sich deutlich in den sinkenden Lernleistungen wider – auch im Regelunterricht.

Um die Lernqualität der Regelschüler zu beeinträchtigen, braucht es im Klassenzimmer keinen «Disco-Betrieb». Schon unerwartete visuelle oder akustische Reize, unvorhersehbare Abläufe durch Regieanweisungen oder der Wechsel von Lehr- und Betreuungspersonen reichen aus. Die Folge bleibt stets gleich: Die Schüler müssen gleichzeitig mehrere Informationsstränge verarbeiten – die Lerninhalte einerseits, die störenden Reize andererseits. Das überfordert die meisten Kinder, überlastet ihr Gedächtnis und hemmt die Lernprozesse. Sie vergessen bereits während des Unterrichts, was sie zu Beginn gelernt haben (sollten). Man spricht vom «schnellen Vergessen», vom «forgetting while learning».

Was von der fehlenden Übungsdichte beim individuellen Fördern gesagt wurde, gilt gleichermassen für den Regelklasse-Unterricht. So degeneriert Ausbildung zu unnützer Unterhaltung. Ob das die «gute Schule für alle» ist, wie sie sich Eltern bei der Abstimmung über ihre Einführung vorgestellt haben? Wollen wir mit dieser Schule Fortschritte machen und einen effektiven Unterricht erreichen, brauchen wir im Regelunterricht einen stärkeren Fokus auf die Lernprozesse und ein Ausbildungskonzept mit Förderklassen.

Anstelle einer separierenden heilpädagogischen Einzelförderung werden in der Förderklasse die Lernprozesse wirklich vergemeinschaftet; das unterstützt eine Integration ins System. Die Klasse als Lerngruppe ist gekennzeichnet durch eine relativ hohe Homogenität der mentalen und sozial-integrativen Lernvoraussetzungen. Damit eröffnen sich Chancen für eine fruchtbare Zusammenarbeit der Lernenden untereinander auf Augenhöhe, weil die interindividuellen Unterschiede moderat sind.

Wer bezahlt den Preis?

In der Förderklasse bleibt der Lernprozesse stabil, vor allem wenn alles aus einer Hand kommt. Das Lernen bewegt sich stets im Bereich der optimalen Passung: Die Anforderungen der Lerninhalte entsprechen dem Lernvermögen der Unterrichteten. So kommen vollständige Lernzyklen zustande – mit Rückmeldungen und Nachfassen, falls die Lernergebnisse noch nicht genügen. Das schafft für alle sichtbare Lernresultate. Kaum etwas motiviert so sehr wie Lernfortschritte. Die Störungen und die damit oft ausgedünnte Lernprozess-Betreuung durch Lehrkräfte haben Konsequenzen: Am deutlichsten bekommen sie diejenigen Schülerinnen und Schüler zu spüren, die mit wenig gezielter Unterstützung durch Lehrer oder Mitschülerinnen höchst erfolgreich sein könnten. Sie bezahlen den Preis, den ihnen die ineffiziente Lernorganisation der integrativen Schule aufzwingt.

Betroffen sind die zahlreichen Kinder der sogenannten «Bildungsreserven», auch solche mit Migrationshintergrund. Besonders Mädchen spüren die Benachteiligung, wie neue Studien belegen. Heute bleiben bei zu vielen Schülerinnen und Schülern Ressourcen einfach brach liegen. Das gilt auch für viele engagierte Lehrkräfte. Sie können in der gegenwärtigen Schulorganisation ihr pädagogisches Potenzial gar nicht optimal ausschöpfen. Eine vertane Chance – für die Betroffenen wie für unsere Gesellschaft.

Fazit: Wir brauchen eine pädagogische Wende, um eine wirklich gute «Schule für alle» zu schaffen – klug geführt und mit effektiven Lernprozessen. So findet die Schule wieder zu ihrem Kernauftrag, dem bildungswirksamen Lernen für alle.

Gerhard Steiner ist emeritierter Professor an der Universität Basel. Nach Assistenzjahren in Bern und einer Fellowship an der Stanford University (1976/77) gründete er in Basel das Institut für Psychologie. Entwicklung, Lernen und Gedächtnis waren seine Forschungsfelder. Während 12 Jahren stand er im Basler Schuldienst.

Carl Bossard ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

In: NZZ, 22.09.2025, S. 8