Veröffentlicht am 31.01.18

Die Verhüllung durch Statistik, um damit Politik zu machen

Heute (30.1.2018) titeln die Zeitungen „Deutschland holt auf“ und freuen sich – die Bildungsungerechtigkeit ist nahezu verschwunden, die ja noch bei PISA 2012 und PISA 2015 ganz groß war. Wir sind bei den führenden Ländern – viele kids aus der Unterschicht schaffen normale und bessere Leistungen. (Nun – wir wussten es , aber der soziale Gradient war doch 2012 und 2015 so hoch wie nirgends – Oder haben wir uns alle verhört?)
Der Reihe nach:

  1. Andreas Schleicher hat die Untersuchung nicht gemacht, er hat Ergebnisse einer Studie von Tommaso Agasisti, Francesco Avvisati, Francesca Borgonovi und Sergio Longobardi lediglich am 29.1.18 verkündet.
  2. Die Autoren mussten ihren Text vorher Herrn Schleicher zur Genehmigung vorlegen. Sie schreiben „This working paper has been authorised by Andreas Schleicher, Director of the Directorate for Education and Skills, OECD.“ So was gibt es in der Wissenschaft nicht. Wir sollten stattdessen – wie in wissenschaftlichen Fachzeitungen üblich – ein anonymes und unabhängiges Expertengremium bemühen, dass eine Arbeit auf Herz und Nieren vor der Publikation prüft.
  3. In ihrem eigenen Abstract heben die Autoren nur das „positive classroom climate“ als Faktor für gute Ergebnisse bei „disadvantaged pupils“(die 25% im untersten Viertel der sozialen Rangskala – in jedem Land extra berechnet) – sonst nichts – es wird weder Ganztag noch Gesamtschule, noch „gemeinsames Lernen“ untersucht.
  4. Die Daten der Untersuchung sind alt, von 2012 und 2015 – es wurde keine neue Studie gemacht – die Daten sind aus genau jenen Studien, bei denen die soziale Verknüpfung des Schulerfolges angeblich bei uns so hoch wie in kaum einem anderen Land war. Genau diese Daten – auf einmal haben wir aufgeholt? Und das kann man an denselben Daten sehen?
  5. Gut – die haben nur die Kinder untersucht, die aus bildungsfernen Elternhäusern stammen und trotzdem normale bis bessere Leistungen erreichen. Und das waren schon 2012 fast genausoviel wie 2015, nämlich 31,7% (2015 waren es 32,3%; S.15 im Forschungsbericht)
  6. Warum keine Jubelmeldung im Jahre 2012? Nun – da lohnte es sich politisch, noch Horrormeldungen über unsere angebliche Bildungsungerechtigkeit zu verbreiten. Ein Drittel von unten schafft es trotzdem – das wäre ja fast Bildungsgerechtigkeit! Jetzt aber – in Zeiten eines konservativen rollbacks – muss man darauf hinweisen, dass die alten, ewig gestrigen Massnahmen (Gemeinsam lernen, Pflichtganztag, Gesamtschule) schon was Tolles bewirkt haben, damit man vom Weg in die Einheitsschule bloß nicht abweicht. Ein Verdacht.
  7. Zur Sache selbst. Im größten Teil der Studie werden die Daten aus allen Ländern zusammengewürfelt – darunter ja viele Länder, die traditionell immer ein Gesamtschulsystem hatten (gute wie schlechte) – interessant, aber alleine noch für keine schulische oder bildungspolitische Praxis relevant (die Autoren sind ganz wissenschaftlich zurückhaltend – sehr angenehm – sie schreiben für Fachleute). Nur in Table 5.2. (S.28 im Forschungsbericht) sind statistisch bedeutsame Zusammenhänge je Land aufgeführt: für Deutschland ist nur das „disciplinary climate“ (ja, es geht eindeutig um Unterrichtsdisziplin) und die Zahl der extracurricularen Aktivitäten“ (Angebote außerhalb des Unterrichts) signifikant. Da, wo in Schulen Disziplin im Unterricht herrscht. so hätten Schlagzeilen lauten können, hilft das der Unterschicht mehr als bei lautem, undiszipliniertem Unterricht. Aber das will ja keiner hören. Extracurriculare Aktivitäten – z.B. Schulorchester, Turniermannschaften – so die Autoren – stärken die Identifikation mit der Schule.
  8. Nun aber – die soziale Mischung. Nein, die Studie ist kein Beleg für Gesamt- oder Einheitsschule. Dass Unterschichtkinder von einer Schule profitieren hängt ziemlich linear (in Figure 3.1. auf Seite 14 zu besichtigen) mit der Durchschnitts- Qualität des Schulsystems zusammen. Also mit Unterricht. Guter Unterricht hilft schlechten Schülern. Banal. Außerdem – die große Wirkung der sozialen Zusammensetzung auf Schulniveau wird nur als Mittelwert gemessen – der sagt nichts aus, man müsste je Schule auch die Verteilung wissen (z.B. nur ein Kind aus der Unterschicht in der Schule oder mehr als die Hälfte?). Also: keine belastbare Antwort auf diese interessante Frage.

Besonders bedauerlich muss man finden, dass als Gegengruppe zu den erfolgreichen Kindern aus der Bildungsunterschicht („resiliente“ Kinder genannt) nicht auch die Versager aus der Bildungsoberschicht untersucht wurden. Was tun Ländern und Schulen, die ihre Kinder aus den bildungsnahen Schichten zu Versagern machen?

Die Öffentlichkeit – so der Verdacht – wird mit Statistiken und Untersuchungsdetails vernebelt, weil sie diese nicht verstehen bzw. weil es zu mühsam ist, sich in Details einzuarbeiten. Diese Verhüllung erlaubt den Verkündern und Sprechern von Resultaten, die komplizierte Realität im Sinne ihrer vorgefassten Meinungen zu verzerren.
Wir brauchen ein oder zwei unabhängige Institute, die die Vielzahl von Studien und Umfragen auf ihre praktische und bildungspolitische Relevanz prüfen.