Veröffentlicht am 28.10.25

Die Mikroprozesse des Lernens sind anspruchsvoll

Wenn das Lernen sein Gewicht verliert

Die Bildungsausgaben in der Schweiz steigen, die Lernleistungen sinken. Das erstaunt; gleichzeitig bleibt die Suche nach Gründen oberflächlich und auf der Makroebene. Das eigentliche Problem liegt im Kleinen, in der Mikroebene des Lernens. Hier entscheidet sich, ob die Schule ihren Kernauftrag erfüllt.

Von Carl Bossard

«Niveau im Sinkflug»: Schulkinder haben immer mehr Mühe mit Deutsch, überschrieb der Zürcher Tages-Anzeiger einen Beitrag zum Lesevermögen Schweizer Jugendlicher. Und die NZZ meinte im gleichen Zeitraum: «Deutsche Sprache, schwere Sprache – die Rückschritte der Schüler sind gravierend.» (1) Wenig später sprach der Tages-Anzeiger gar davon, dass «Fast die Hälfte der 15-Jährigen in der Schweiz [nur] über eine geringe Lesekompetenz [verfügt]». (2) Das lässt aufhorchen. Dabei verspricht der voluminöse Lehrplan 21 umfassende Kompetenzen – auch im Bereich Deutsch. Und zwar für alle. Doch die Realität sieht anders aus. Bekannt ist diese Tatsache seit Langem, doch die Verantwortlichen schauen lieber weg und schweigen. Handeln? Fehlanzeige!

Zwei Grundpfeiler des Lernens: Verstehen und Festigen
Noch nie war so viel von Kompetenzen die Rede wie heute und gleichzeitig so wenig von Lernen. Da ist vom «Integrationsförderndem Unterricht» die Rede, vom Abschaffen der Noten und der Hausaufgaben, gar vom Aufheben der Selektion nach sechs Schuljahren – und natürlich von mehr Ressourcen und Personal, wie es der Schweizer Lehrerverband LCH konstant fordert. Doch kaum jemand spricht von den Lernprozessen. Ein fast vergessenes Wort – und ein grundlegendes zugleich. Was aber bedeutet es?

Einfach gesagt ist Lernen das Integrieren neuer Information in bestehendes Wissen. Dies geschieht durch zwei Hauptprozesse: Verstehen und Festigen. Beim Verstehen bauen wir neues Wissen auf, beim Festigen und Üben behalten und rufen wir es ab. Diese beiden Prozesse bilden die Grundpfeiler jeglichen Lernens. (3)

Unterricht lebt von den Mikroprozessen
Verstehen, Behalten, Erinnern und Anwenden von Wissen und Können sind die bekannten Teilprozesse des Lernens. Entscheidend aber sind jene mentalen Aktivitäten, die innerhalb dieser vier Bausteine und zwischen ihnen ablaufen: die Mikroprozesse des Lernens. Richtig eingesetzt bewirken sie, dass die Informationen aus dem Unterricht gedächtnisgerecht verarbeitet werden.

Die Vielfalt der Mikroprozesse ist immens. Sie ist abhängig von den individuellen Fähigkeiten der Lernenden und der Art, wie die Lehrperson sie im Unterricht mobilisiert, dazu auch von der Komplexität des Lerninhalts. Manche Lehrkräfte – oft in Schnellkursen auf ihre Aufgabe vorbereitet – haben von diesen anspruchsvollen Vorgängen kaum klare Kenntnis. Jeder Unterricht lebt aber von diesen Mikroprozessen.

«Wir sind sehr ruhig, das gefällt mir»
Gut ausgebildete Lehrerinnen und Heilpädagogen haben darum ein waches Bewusstsein für diese feinen Abläufe und ein Sensorium für ihren didaktischen Gebrauch. Sie wissen, wie leicht Störungen und Unterbrüche im Unterricht diese Mikroprozesse beeinträchtigen und die Schulqualität gefährden. Genau das aber geschieht. Die Unruhe in vielen Klassen ist ein bekanntes Problem. Die Zeitschrift «Der Beobachter» sprach gar von einem «Tohuwabohu» in gewissen Unterrichtszimmern, (4) eine Klassenlehrerin vom «Disco-Betrieb». Nicht umsonst sagt der neunjährige Livio der Primarschule Ottenbach-Zürich: «Unsere Klasse ist die perfekte Klasse. Wir sind sehr ruhig, das gefällt mir. Ich wünsche mir allgemein, dass es mehr ruhige Klassen gibt.» (5)

Ruhe und Konzentration: Sie erst ermöglichen das fürs Lernen und die Lernprozesse so wichtige Element der Kontinuität. Sie ist nicht irgendein beliebiger Faktor, sondern eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Wissen kohärent vernetzt wird. Diese Netzwerke bilden die Basis für Fähigkeiten wie verstehendes Lesen, das Erfassen der Kernaussagen eines Textes, das klare Formulieren eigener Gedanken, das Lösen rechnerischer Aufgaben mit Algorithmen oder das Umsetzen von Anleitungen in konkrete Handlungen. Häufige Unterbrechungen zerstören systematisch die zeitliche wie auch die inhaltliche Kontinuität. Das spiegelt sich deutlich in den sinkenden Lernleistungen wider.

Dysfunktionalität der heutigen Unterrichtsorganisation
Die Schule von heute mit dem integrativen Unterricht erschwert diese Mikroprozesse, ja macht sie nicht selten ineffizient, oft sogar dysfunktional. Warum? Sie muss zu viel auf einmal: Da ist die enorme Heterogenität aktueller Schulklassen mit den ganz unterschiedlichen Lernfähigkeiten der einzelnen Kinder und dem anspruchsvollen Umgang mit kognitiven, sprachlichen und sozial-integrativen Defiziten.

Das führt zur Individualisierung der Lernwege und auch oft zur Separierung der betroffenen Kinder. Unterbrochen wird so die Kontinuität des Lernflusses. Mit anderen Worten: Es fehlt oft am «roten Faden», der sich durch jedes effiziente Lernen zieht. Die separierende heilpädagogische Einzelförderung ist auf kurze, punktuelle und meist isolierte Ziele ausgerichtet.

Es fehlt am gezielten Üben, Üben, Üben
Nachteilig im heutigen Schulsystem wirkt sich vor allem die notorisch niedrige oder gar fehlende Übungsdichte aus; sie ist auf eine lernpsychologisch wenig bewusste Unterrichtsführung zurückzuführen. Diese systemimmanente Dysfunktionalität führt zu zahlreichen diagnostizierten Lernproblemen; durch eine deutlich höhere Übungsdichte liessen sich viele beheben. «Üben» ist zum Fremdwort geworden – mit fatalen Folgen.

Dazu kommt der enorm hohe Personalaufwand der Integrativen Schule: Die Klassenlehrerin wird von einer Heilpädagogin unterstützt, dazu von einer IF-Lehrperson (Integrierte Förderung) oder einer Klassenassistenz; manchmal hilft auch ein Zivildienstler. Doch der Lernerfolg verhält sich nicht proportional zur Anzahl involvierter Personen. Zu viele Köche verderben den Brei, vor allem wenn sie nie richtig kochen gelernt haben.

Wer bezahlt den Preis?
Die Störungen und die damit oft ausgedünnte Lernprozess-Betreuung durch Lehrkräfte haben Konsequenzen: Am deutlichsten bekommen sie diejenigen Schülerinnen und Schüler zu spüren, die mit wenig gezielter Unterstützung durch Lehrer oder Mitschülerinnen höchst erfolgreich sein könnten. Sie bezahlen den Preis, den ihnen die ineffiziente Lernorganisation der Integrativen Schule aufzwingt.

Betroffen sind die zahlreichen Kinder der sogenannten «Bildungsreserven», auch solche mit Migrationshintergrund. Besonders Mädchen spüren die Benachteiligung, wie wir wissen. Heute bleiben bei zu vielen Schülerinnen und Schülern Ressourcen einfach brachliegen. Das gilt auch für viele engagierte Lehrkräfte. Sie können in der aktuellen Schulorganisation ihr pädagogisches Potenzial gar nicht optimal ausschöpfen. Eine vertane Chance – für die Betroffenen wie für unsere Gesellschaft.

Zurück zum Kern – Vorwärts zum Lernen!
Die wissenschaftlichen Daten sind unmissverständlich: «Niveau im Sinkflug», resümiert der Tages-Anzeiger. Die Lernleistungen dürfen nicht weiter abfallen. Wir brauchen darum eine pädagogische Wende, um eine wirklich gute «Schule für alle» zu schaffen – klug geführt und mit effektiven Lernprozessen. So findet die Schule wieder zu ihrem Kernauftrag, dem bildungswirksamen Lernen für alle.


Literatur und Links

  1. in: Tages-Anzeiger, 16.08.2025, S. 5; in: NZZ, 20.08.2025, S. 8.
  2. Sandro Benini, Interview über Leseschwäche: «Wir laufen sehenden Auges in ein schweres Problem hinein», in: SonntagsZeitung, 14.09.2025, S. 43f.
  3. Vgl. dazu den Beitrag: Gerhard Steiner (2020), Selbstreguliertes Lernen – Voraussetzungen zu seiner Genese, in: Damian Miller & Jürgen Oelkers (Hrsg.), „Selbstgesteuertes Lernen“: Interdisziplinäre Kritik eines suggestiven Konzepts. Mit Nachbemerkungen zum Corona-Lockdown. Basel/Weinheim: Beltz/Juventa, S. 131f.
  4. Julia Hofer, Tohuwabohu im Klassenzimmer, in: Beobachter 25/2021, S. 92.
  5.  «Eltern wollen zu sehr von ihren Kindern geliebt werden» – Interview Barbara Achermann mit Roland Reichenbach, in: Das [Tages-Anzeiger-]Magazin, 25.10.2025, S. 8ff.