Veröffentlicht am 12.09.16

Die Entkernung des Mathematikunterrichts

Ein PROFIL-Beitrag von Dieter Remus und Sebastian Walcher

»Als Entkernung bezeichnet man im Bauwesen den Teil-Abriss eines bestehenden Gebäudes, bei dem in der Regel lediglich die Fassade erhalten bleibt.« Dieses Zitat aus einer populären Online-Enzyklopädie ist der Anlass der folgenden Überlegungen. Nicht nur Gebäuden kann Entkernung widerfahren.

In den vergangenen Jahren wurden die Mathematik-Curricula der Sekundarstufe II umfassend reformiert; die Auswirkungen auf die Studierfähigkeit von Erstsemestern vor allem in MINT-Fächern stoßen zunehmend auf Kritik. Den Kritikern wird vielfach entgegnet, dass der Mathematikunterricht und die Prüfungsaufgaben keineswegs einfacher geworden seien; es würden nur andere Schwerpunkte gesetzt. Von einigen Autoren, etwa von Kaiser und Busse, wird sogar die These aufgestellt, die Aufgaben seien anspruchsvoller geworden. Gemäß den selbst gewählten Kriterien von Kaiser und Busse mag das der Fall sein. Relevant ist aber die Frage nach Zielen, Sinn und Nutzen des neugestalteten Unterrichts.

Erfindung einer neuen Art von Mathematik

Das in der Schulmathematik geforderte Wissen und Können hat eine tiefgreifende Veränderung erfahren. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass hier eine neue Art von ‘Mathematik’ erfunden wurde: Die Fassade (insbesondere die Reputation von Mathematik als grundlegendes und in vielen Anwendungsbereichen relevantes Fach) blieb stehen, dahinter aber findet sich nach vollzogener Entkernung ein völlig anderes Gebilde. Dies zeigt sich deutlich in den Kernlehrplänen mehrerer Bundesländer (wie NRW seit 2014), in den KMK-Standards zum Mathematikabitur und exemplarisch in den Beispielaufgaben des ‘Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen’ (IQB). ‘Klassische’ mathematische Kenntnisse und Fertigkeiten werden zurückgedrängt zu Gunsten von Schlagworten wie etwa Kompetenzorientierung, Modellieren und Problemlösen. In aller Regel haben jedoch die dazu präsentierten Aufgabenbeispiele wenig mit mathematischer Modellierung realer Phänomene zu tun und noch weniger mit Problemlösen im Sinne von Polya, also mit kreativem Arbeiten auf einer soliden Grundlage mathematischer Kenntnisse. Auch hiervon bleibt bestenfalls die Fassade übrig.

In: PROFIL, Magazin des Deutschen Philologenverbandes, Ausgabe 07/08 2016

Der vollständige Beitrag als PDF: PROFIL_Remus_Walcher_Entkernung_Mathematikunterricht