Veröffentlicht am 14.07.20

Die drei grossen „G“

Heute spricht alles von Kompetenzen. Selbst von Neugierkompetenz ist die Rede. Was aber sind Kompetenzen? Etwas, das ich kann? Etwas, das ich weiss? Etwas, das ich bin? Ein Klärungsversuch.

Der Begriff der Kompetenz hat kräftig Karriere gemacht. Er erobert die Curricula und steht überall im Zentrum: beim Bologna-Prozess, bei den Bachelor- und Masterstudiengängen und vor allem beim Lehrplan 21. Sämtliche Bildungsinhalte, welche die Schule vermitteln soll, sind hier kompetenztheoretisch gefasst. Wo früher „Die Schülerinnen und Schüler wissen, dass x der Fall ist“ stand, heisst es heute: Sie „können x benennen.“ Ein konkretes Beispiel: „Die Schülerinnen und Schüler können sich singend in der Gruppe wahrnehmen und ihre Stimme im chorischen Singen differenziert einsetzen.“ Alles und jedes orientiert sich heute an der Sprache des Kompetenzdenkens. Aber ist das möglich und ist es nötig? Wirkt nicht vieles sehr gekünstelt? Und geht dabei nicht allzu sehr vergessen, dass sich ein Können ohne ein Wissen im traditionellen Sinne kaum entfalten kann?

Lassen sich Kompetenzen genau operationalisieren?

Wer sich skeptisch gegen den Mainstream stellt, wird gerne in eine bestimmte Ecke befördert und verächtlich belächelt. Darum schicke ich voraus: Ich bin weder allergisch gegen „Kompetenzen“ und noch hege ich eine Aversion gegen „Standards“, sofern die Begriffe klar und lernleistungsorientiert gebraucht werden. Im Gegenteil. Als ehemaliger Sportler weiss ich: Im Wettkampf zählt nichts als Leistung; es zählt nur das nackte Resultat. Output ist alles, Input dagegen Privatsache. Es gilt einzig mein physisches Rendement im Moment – gleichgültig, wie viel Zeit und Energie ich ins Training investiert habe. Daher kommt wohl meine Sympathie für den Leistungsgedanken in der Bildung: Sie muss mir und meinem Leben etwas bringen – und auch der Gesellschaft. Bildung muss mich klüger machen und mich weiterbringen. Die Schweiz leistet sich ja zusammen mit Luxemburg das teuerste Bildungssystem der Welt. Da darf man hohe Ansprüche stellen.

Doch kann man Bildung in Kompetenzen bündeln und eng an Leistungsstandards binden? Und lässt sich jede Kompetenz isolieren und validieren, also präzis operationalisieren und auf ein beschreibbares und testbares Können reduzieren? Ist Bildung ebenso messbar wie sportliches Potenzial? Diese Frage stellt sich, wenn Bildungs- und Lernziele auf einen einzigen Begriff reduziert und als Kompetenzen und Kompetenzmodelle gefasst werden.

Verwirrspiel um den Kompetenz-Begriff

Woher aber kommt der Begriff der Kompetenz? Seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts steht der Terminus der „Kompetenz“ im Mittelpunkt des bildungspolitischen Diskurses. Man sprach von der „kognitiven Wende“. Schon früh brachte der berühmte amerikanische Linguist Noam Chomsky das Begriffspaar von „Kompetenz“ und „Performanz“ in die Diskussion ein. 1971 prägte der Philosoph Jürgen Habermas das Wort von der „kommunikativen Kompetenz“. Kompetenz und Intelligenz wurden auch zum Konstrukt der „kognitiven Kompetenz“ vereint.

Ziemlich schnell hat man den Begriff „Kompetenz“ allerdings inflationär gebraucht. Da war beispielsweise von „emotionaler Intelligenz“ die Rede, die mit „sozialer Kompetenz“ verbunden sein müsse, wenn sie wirksam werden wolle. Ein Verwirrspiel. Die wissenschaftliche Diskussion reagierte. 1999 legte Franz E. Weinert, Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, die Studie „Concepts of Competence“ vor.(1) Sie sollte Struktur und Klarheit bringen. Seine Ratschläge waren grundlegend für die weitere bildungspolitische Entwicklung.

Eine bunt gemischte Palette für die Bildungsprozesse

Weinerts Literaturbericht diskutiert verschiedene Konzepte. Sie reichen von einem allgemeinen psychologischen Konstrukt „Kompetenz“ und einer davon unterschiedenen spezifischen Disposition für „Performanz“ bis zu Konstrukten wie „motivationale“ und „soziale Kompetenz“ sowie „Handlungskompetenz“, „Schüsselkompetenzen“ und „Metakompetenzen“.(2)

Das ist ein weites Feld, in Teilen gar ein abschüssiges Gelände. Welcher Begriff von „Kompetenz“ aber ist in dieser bunt gemischten Palette für die Bildungsprozesse nun relevant? Das war die Frage. Weinert engte das Konzept ein. In den Mittelpunkt rückten bereichsspezifisches Wissen und damit zusammenhängende Fähigkeiten. Nach ihm sind Kompetenzen „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“.(3) Weinert bringt das Konzept „Kompetenz“ explizit mit der Theorie der Problemlösung zusammen. Darum erscheint die Welt im Lehrplan 21 als gigantischer Problemberg, an dem primär eines zu tun ist: Probleme lösen und kontrollierbare Kompetenzen erwerben.

Bildung ist mehr als nur Problemösen

Mit dieser Definition verschiebt sich der ursprüngliche Bildungsanspruch zu einem Ausbildungsprimat: er dominiert heute die Lehrpläne. Darum heisst es im neuen Lehrplan 21 unmissverständlich: „Mit der Orientierung an Kompetenzen wird der Blick darauf gerichtet, welches nutzbare Wissen und welche anwendbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten in welcher Inhaltsqualität Schülerinnen und Schüler in den Fachbereichen erwerben sollen.“ Bildung wird auf einen Katalog von Kompetenzen reduziert, definiert vom Kriterium der „Employability“.

Doch das ist vielen Lehrpersonen zu wenig und zu eng. Bildung kann nicht nur das sein, was ich kompetenzmässig beherrsche, was ich kann und was ich weiss. Beides kann man erwerben, beides kann man unter Kontrolle halten und darüber verfügen. Und beides ist testbar. Mit Recht sagt darum Prof. Jürgen Oelkers: Kompetenz ist ein „Modebegriff, der inzwischen für alles herhalten muss, was irgendwie innovativ klingt und doch selten das traditionelle Begriffspaar ‚Wissen und Können‘ übersteigt.“ (4)

Ockhams Rasiermesser

Bildung ist immer auch das Gegenteil; sie ist das, was ich bin: leidenschaftliche Hingabe und staunende Wahrnehmung, eine Sehnsucht, eine Neugier. Doch in der künstlich konstruierten Komplexität heutiger Schulrealität geht diese schlichte Tatsache oft vergessen. Viele Lehrerinnen, viele Pädagogen wünschen sich darum eine Reduktion auf wenige, aber entscheidende Faktoren. Sie wünschen sich Ockhams Rasiermesser. Wilhelm von Ockhams Devise: Suche das Wesentliche und schneide alles andere mit dem Rasiermesser ab.

Eine pädagogisch-didaktische Trias, die nicht veraltet

Manches in der Pädagogik lässt sich durch drei teilen oder auf drei wesentliche Aspekte reduzieren. Bestes Beispiel ist Pestalozzis viel zitierter Dreiklang von Kopf – Herz – Hand. Daran hält sich der noch immer gültige Rahmenlehrplan für Maturitätsschulen von 1994. Er teilt die Lernziele in Grundkenntnisse, Grundfertigkeiten und Grundhaltungen auf. Es sind „die drei grossen G“ – eine pädagogisch-didaktische Trias, die gar nicht veralten kann, weil sie so etwas wie ein NON PLVS VLTRA darstellt.

Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen. Dies mit einer Grundhaltung, die nach aufklärerischer Tradition die Autonomie und Verantwortlichkeit des Einzelnen meint. Das kommt mir vor wie ein Naturgesetz, wie die Gesetzestafeln vom didaktischen Berg Sinai. Diese Aspekte müsste der Kompetenzdiskurs vermehrt mit bedenken.

Carl Bossard

1 Franz E. Weinert (1999), Konzepte der Kompetenz. Paris: OECD.

2 Jürgen Oelkers (2009), Kompetenzen zwischen „Qualifikation“ und „Bildung“. Msc. unpubl., S. 3.

3 Franz E. Weinert (2001), Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: F.E. Weinert (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim/Basel: Beltz Verlag, S. 21f.

4 Jürgen Oelkers (2014), Schulleitung? Schulleitung!! Msc. unpubl., S. 2.