Veröffentlicht am 25.07.12

›Teilhabe‹

»We cannot allow that everybody does as he pleases.« (Günther Oettinger)

Wer schon einmal versucht hat, in Schulen, Kindergärten oder Universitäten kleinere Verbesserungen vor- oder größere Verschlechterungen auszuschlagen, wird sich schnell vor unüberwindliche Hürden gestellt sehen, die immer dann errichtet werden, wenn es darum geht, engagierte KollegInnen, kritische Studenten, wache Schüler oder nörgelige Eltern zu zermürben. Die Klassiker unter den Zauberformeln entspringen den Dispositiven a. der fehlenden finanziellen Mittel, b. der Versicherungstechnik, c. des Sachzwangs und schließlich d. der moralischen Delegitimation und Skandalisierung. Ihrer fundamentalen Bedeutung wird beispielsweise dadurch Rechnung getragen, dass ein komplettes Basismodul im Bachelor-Studiengang ›educational engineering and development‹ an der FH Brolinghausen for applied science dem Kompetenzerwerb im Bereich ›outspeech-design‹ und ›queerulation-management‹ gewidmet ist.

Huch, jetzt habe ich den Faden verloren. Nun, … eigentlich wollte ich ja über etwas ganz anderes schreiben als über das alltägliche Ohnmachtsgefühl angesichts der diskursiv abgesicherten Selbstgefälligkeit institutionalisierter Unbildung — genau: eine Glosse über ›Teilhabe‹. Doch greift da nicht das Dispositiv d. moralische Delegitimation und Skandalisierung? Darf man überhaupt einen satirisch-bösen Text schreiben über diese neue flauschige Konfliktvokabel der sozialen Emanzipation, die Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Rehabilitations- und Sozialpädagogen auf ihre Internetbanner und in die Skripte ihrer Agitatoren geschrieben haben, ohne als diskriminierend zu gelten? Ein schwacher, wenngleich subtiler Ausweg aus dieser Alternativfalle (Wer gegen ›Teilhabe‹ ist, spricht sich für Diskriminierung aus!) wäre der Hinweis auf die Anführungszeichen; doch für Philologie haben wir keine Zeit, wenn wir angesichts der Wirtschaftskrise der Klimakatastrophe der demographischen Entwicklung der PISA-Studie der Schweinegrippe (Bitte Zutreffendes ankreuzen!) handlungsfähig bleiben wollen (vgl. Dispositiv c. Sachzwang).

Deshalb ganz frontal: Ich hege den Verdacht, dass ›Teilhabe‹ mit Modellimplikationen aufgeladen ist, die die wohlmeinenden Absichten der Weltverbesserer unterlaufen, wenn nicht konterkarieren. Vom sprachlichen Unbehagen an der ›Habe‹ mal ganz abgesehen, irritiert schon die sich aufdrängende Analogie zum Teilhaber, durch die sich Ähnlichkeiten bei wesentlich größerer Unähnlichkeit zeigen. Das Problem, auf das der Begriff zu antworten vorgibt, ist tatsächlich ein gravierendes: Eine Vielzahl von Menschen ist qua Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, körperlicher Gegebenheiten, Armut, Religionszugehörigkeit, Alter etc. nicht im vollen und emphatischen Sinne politisches Subjekt. Selbst wenn die Verfassungen moderner Gemeinwesen ihnen gleiche Rechte und Würde zusprechen, sind sie doch meist de facto durch das ungleich mächtigere ungeschriebene Gesetz von der politischen Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen (Übersetzung für Teilhabe: Partizipation). Was ebenfalls mitschwingt, ist das Problem der Wohlfahrt und Verteilungsgerechtigkeit, denn ›Teilhabe‹ verspricht, dass jeder seinen Teil abbekommt, wenn das Rudel die Beute aufteilt.

Die entscheidende Frage, die jedoch einer Klärung bedarf, wenn man ›Teilhabe‹ als einen politischen, pädagogischen und emanzipatorischen Begriff verwenden will, ist die Frage nach dem implizit angesetzten Verhältnis der Teile zum Ganzen. Der Blick in die Ideengeschichte eröffnet ein reiches Spektrum an Modellen, so dass ein kritischer Vergleich durchaus lohnenswert erscheint. Meint ›Teilhabe‹ METHEXIS, also die seinsbegründende Abkunft des Realen vom Idealen, wie schon Platon in einem durchaus politischen Kontext bedacht hat? Oder: Könnte nicht Comenius’ berühmte Formel ›omnes, omnia, omnino‹, die das Soziale und das Reale in deren Beziehung auf das Ganze problematisiert, modellkritisch herangezogen werden? Müssen wir nicht auch das Verhältnis von Teil und Ganzem unter der Perspektive von Mittel und Zweck bedenken, wie es Schiller in seiner kategorialen Unterscheidung der mechanischen, schönen und pädagogischen bzw. politischen Kunst in den ›Ästhetischen Briefen‹ unternimmt? Ein guter Gesprächspartner wäre sicher auch Max Horkheimer, der dem ›Begriff der Bildung‹ die Hingabe an die Sache und an das Ganze aufgibt.

Allein die Vokabel der ›Teilhabe‹ ist historisch und systematisch verwaist und würde einer Prüfung im Gespräch mit den genannten Positionen angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse kaum standhalten. Wie sollte sie auch? Blickt man unter die emanzipatorische Tünche, verbirgt sich hinter ›Teilhabe‹ eine sozialkybernetische Funktion. ›Teilhabe‹ schillert in einer zynischen Doppelgesichtigkeit: Sie wird einerseits großzügig gewährt und andererseits erpresserisch gefordert, ist Verheißung und Oktroy zugleich. Sie geriert sich als Befähigung und vollzieht sich als Unterwerfung, da sie die Hoheit über die Qualifikationskriterien für die Teilnahme am sozialen Spiel nicht aus der Hand gibt: Flexibilität, Mobilität, Selbststeuerung, Ressourcenorientierung, Selbstökonomisierung. Teilhabe-Verweigerer oder -Versager dagegen verlieren ihren Anspruch auf Solidarität. Die zuvor angedeutete ideengeschichtliche Spannung von Teil und Ganzem als Problem des Politischen wird damit von der ›Teilhabe‹ aufgelöst: Der Teil, dessen die vormals Exkludierten teilhaftig werden können sollen, ist immer nur ein zugewiesener Teil, der stets bedroht davon ist, wieder verspielt zu werden.

Es scheint, als wäre es der Demokratie so ergangen wie der Religion: Gott ist tot und alle kaufen Weihnachtsgeschenke. Geist und Anspruch sind verflogen, was bleibt, ist Folklore: Wahlen, Abstimmungen, medial inszenierte Diskussionen, in deren Schatten sich die postdemokratischen Mächte längst formiert haben. ›Teilhabe‹ ist eben nur die Einfügung in eine unterwerfende Konstellation, in der die Freiheit, das Ganze zu gestalten, nicht existiert. Nihilistische Nachgeburt der Metaphysik, ohne Hoffnung auf Vollkommenheit oder Erlösung: Macramé-Eulen auf dem Schulflur erhöhen die Brandgefahr!

(Quelle: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 1/10)