Veröffentlicht am 25.07.12

›Netzwerken‹

Nein, da ist kein »n« zuviel. Es handelt sich nicht um Netzwerke, also die Mehrzahl von Netzwerk, sondern wir reden über eine Tätigkeit, eine Handlung, die man neuerdings als »Netzwerken« bezeichnet. Es geht ferner auch nicht um Technik, sondern um Menschen. Die Glosse ist also nicht versehentlich hier gelandet. Genauer ist von zwischenmenschlichen Beziehungen die Rede, nur unter ganz bestimmten Vorzeichen, die der voranschreitenden ökonomisch-technokratischen Ausgestaltung unserer Gesellschaft geschuldet sind. ›Netzwerken‹ kann man sowohl privat als auch beruflich bzw. professionell, nur scheint der Unterschied allmählich zu verwischen. Doch der Reihe nach: Mit der zweiten Formel des Kategorischen Imperativs hat KANT seinerzeit ein scheinbar unumstößliches, ethisches Fundament gelegt, wie in Bezug auf Menschen »richtig« gehandelt werden solle: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Der je Andere darf somit niemals bloß Mittel zum Zweck sein, sondern ist stets zugleich Zweck seiner selbst. Das sollte man zumindest als Pädagoge wissen, denn als solcher hat man es für gewöhnlich mit Menschen zu tun. Der Terminus ›Netzwerken‹ lässt jedoch auf einen schleichenden Gedächtnisverlust der modernen, globalisierten Welt gegenüber überlieferten moralischen Grundsätzen schließen, zumal er einer opportunistischen Zweckrationalität und Verwertungslogik sozialer Beziehungen entspringt und eine ökonomistische Ideologie bedient, die geradezu pandemisch sämtliche Lebensbereiche infiziert hat. Die eigentümliche Vermischung von Technik und Sozialem ist zum Programm geworden. So wie Informatiker Netzwerke »pflegen«, d.h. Daten sichern, Viren abwehren, Zugänge sperren und freischalten, Leitungen etablieren usw., so werden heute Beziehungsnetzwerke »gepflegt« — und zwar in gestiegenem Maße mithilfe von Technologie.

Sie sind noch nicht bei XING oder ICQ angemeldet, haben kein Profil bei MySpace, sind weder im StudiVz noch im MyVz? Sie simsen, chatten und twittern nicht? Ihr Konterfei ziert nicht das Facebook; Ihre Qualifikationen, Hobbies, privaten Interessen und Vorlieben haben Sie nicht auf »wer-kennt-wen« zur Schau gestellt? Offenbar sind Sie ein schwacher Netzwerker: sozial desintegriert, offline. Sie wurden abgehängt oder sind schlicht einsam und verlassen. Global Networking ist heute der Schlüssel zur erfolgreichen Selbstvermarktung. Ihre Chance sich zu profilieren, anzupreisen, Ihr Können und Wissen jederzeit für jeden abrufbar in die Waagschale zu werfen und Ihre Mitbewerber um die lukrativen Jobs, die Führungsplätze auszustechen — vertan. BOURDIEU hatte »die feinen Unterschiede« und Ungleichheiten der Klassengesellschaft bisweilen recht amüsant zutage gefördert. Oft zählt nicht die individuelle Leistung oder erworbene Qualifikationen bei der Verteilung der Eintrittskarten in die Führungskader, sondern der von Gleichgesinnten wiedererkennbare Habitus bzw. der jeweilige »Stallgeruch« (M. HARTMANN): Woher man kommt, wen man kennt, in welchem Club man Mitglied ist, bis hin zu scheinbaren Banalitäten, z.B. welche Uhrenmarke man bevorzugt. Die berühmten »Connections«, das vielzitierte »Vitamin-B« entscheiden über Erfolg und Niederlage hinsichtlich sozialer Mobilität. Konnten Bourdieus entlarvende Plädoyers noch Empörung hervorrufen und Bemühungen initiieren, die Chancen gerechter zu verteilen und das Netz enger zu knüpfen, hat das neoliberale, »unternehmerische Selbst« nach BRÖCKLING keine Muße mehr, über so hehre Ziele wie ›Gerechtigkeit‹ nachzudenken. Es muss sich vernetzen; überall und jederzeit in die eigene Biographie investieren, sorgfältig kalkulierte Entscheidungen treffen, Risiken minimieren. Soziale Kontakte werden nicht aufgrund von Sympathie oder Zuneigung ausgewählt und gepflegt, sondern einer Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen: »Was bringt es mir, Dich zu kennen?« oder »Ich finde Dich sehr sympathisch, aber eine Beziehung mit Dir wäre eine nicht verantwortbare Fehlinvestition — also mach’s gut!«

Kein geringerer als Udo Jürgens — auf den ich hier im vollen Bewusstsein des Risikos einer solchen Vernetzung im Feld des Akademischen referiere — hat neulich einen musikalischen Versuch gewagt, das zunehmende Unbehagen zu persiflieren, welches die ältere (und jüngere) Generation angesichts der unaufhaltsamen technologischen Hochrüstung unserer konnektiven Gesellschaft verspürt: »Völlig vernetzt« heißt es da, »von Technik umzingelt«.

Es bleibt ambivalent. Netzwerken kann sehr spannend sein, neugierig machen, den Anderen näher bringen, Fremdes befreundet werden lassen, Altbewährtes erhalten, vergessen Geglaubtes wieder hervorbringen. Technologie ist nicht per se verdächtig, sie kann ein wahrer Segen sein. Problematisch wird sie, wenn sie an die Stelle des Menschen und seiner individuellen Würde tritt, sich paradigmatisch gibt und als positiver Selbstzweck deklariert oder gar als Ausschlusskriterium missbraucht wird, nach dem soziale Netze etabliert oder gekappt werden. Denn dann wird sie leicht zum Fluch, zum Oktroy, das echte Beziehungen nicht mehr zulässt. Handlungen in Förderungsabsicht, von denen das Pädagogische getragen wird, werden so prinzipiell amputiert, wenn nicht verunmöglicht.

Am Ende steht das Zerrbild des totalen Netzwerkers: Jemand, der überall Zugang sucht, immer auf Anschluss aus ist, um Vernetzung und Anerkennung buhlt. Interesse heuchelnd und die Wertschätzung des Anderen beteuernd, gilt die einzige Sorge doch nur dem eigenen Vorteil und Status im hochgeladenen Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion. Mit modernster Technik ausgestattet und ein Virtuose im Bereich Social Skills produziert der auf allen Kanälen funkende Homo reticulus bisweilen recht unangenehmen Smog, der feinsinnige Menschen leicht irritiert — womit wir im olfaktorischen Sinne wieder bei HARTMANN wären.

(Quelle: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 4/09)