Veröffentlicht am 26.11.13

Die empirische Bildungsforschung und das Problem der pädagogischen Banausie

Kommentar zu Klieme/Leutner, FAZ v. 8.11.2013, S. 8 »Bildungswelten«

In letzter Zeit druckt die FAZ sporadisch Beiträge ab, die sich kritisch zum wissenschaftlichen und politischen Wert der Erträge »empirischer Bildungsforschung« verhalten. Eine Art Höhepunkt hat die diskontinuierliche Folge solcher Beiträge im November erreicht, als sich dem Beitrag von Eckhard Klieme und Detlev Leutner vom 8.11., in dem sie die Erträge solcher Forschung herausstellten, am 22.11. eine Erwiderung von Andreas Gruschka anschloß, der die Meßverfahren und ‑ergebnisse der empirischen Bildungsforschung kritisierte: Daß diese in keiner Weise einen Ersatz für den genuinen, darum unverzichtbaren Anteil der Erziehungswissenschaft, der allgemeinen Didaktik und der Fachdidaktiken zur Lehrerbildung bieten könne.

Der Beitrag von Klieme und Leutner sollte den Eindruck vermitteln, die Repräsentanten der empirischen Bildungsforschung ließen sich endlich auf die Kontroverse ein, die sie mit ihrem dominanten Auftreten vor Politik und Öffentlichkeit schon vor langem ausgelöst, aber durch ihr Schweigen beherzt ignoriert haben. Insofern ließe der Beitragstitel »Ein nützliches Hilfsmittel zum Lernen und Lehren? Die Kompetenzmessung hat direkte Rückwirkungen auf Lehrerhandeln und Unterrichtspraxis sowie politische Entscheidungen« darauf hoffen, daß sie in der Schilderung solcher Rückwirkungen endlich jenen Effekt von Wirksamkeit darlegen, den man erwarten dürfen muß, wenn seit Jahren mit solchem Aufwand Schulleistungsuntersuchungen betrieben werden, die regelmäßig zu einem mehr oder weniger unverhohlen als miserabel und ungenügend dargestellten Ergebnis führen. Die in Folge der nach den seit mehr als zehn Jahren für Deutschland unvorteilhaft erscheinenden internationalen PISA–Vergleichen national etablierten Kontrollmechanismen der jährlichen Überprüfungen der KMK–Bildungsstandards durch das eigens zu diesem Zweck gegründete Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) haben eine Institution geschaffen, die das Geschäft mit der Kompetenzmessung von den Risiken der OECD–Abhängigkeit befreiten, indem deren wissenschaftliche Verfahren auf eigentümliche Weise nationalisiert wurden. Dafür soll der Beitrag von Klieme und Leutner die Begründung nachreichen.

Drei Abschnitte erfüllen in diesem Text solche Funktion. Es beginnt damit, daß sie die Idylle des »forschenden Lernens« in einer Grundschulklasse schildern. Das macht stutzig, weil von den Autoren ein Einstieg in ihre Sache, das PISA im allgemeinen und das jährliche Bundes–PISA des IQB im besonderen zu erwarten wäre. Statt etwas über pädagogische Erfolge der fälligen Interventionen zur Steigerung der Qualität von Haupt– und Realschulabschlüssen Fünfzehn– bis Sechzehnjähriger zu erfahren, wird man über die Vorzüge »entdeckenden Lernens« der jüngsten Schulkinder informiert. Sollten die Autoren ihre mittels Methoden der Kompetenzmessung verrichteten Auftragsarbeiten ernsthaft als Auslöser für solche Unterrichtspraxis hinstellen wollen, käme ein grotesker Anachronismus heraus. »Stellt ihm Fragen, die seiner Fassungskraft entsprechen; laßt sie ihn selber lösen. Er darf nichts wissen, weil ihr es ihm gesagt habt, sondern weil er es selbst verstanden hat. Er soll die Naturwissenschaften nicht lernen, sondern erfinden« (Rousseau 1762, Emil oder über die Erziehung, S. 159 f.) Eine phantastische Fern– und Rückwirkung der empirischen Bildungsforschung, die beim Aufklärer Rousseau den Wert des Lernens durch Erfahrung zu Bewußtsein brachte? Darauf ist Rousseau gänzlich ohne Kompetenzmeßverfahren gekommen und hat Generationen von Erziehern und Lehrern vom Wert der Erfahrung überzeugt. Wie groß muß die Verzweiflung bei den empirischen Bildungsforschern sein, wenn sie zu solch einem Taschenspielertrick greifen? Es ist wohl doch so, daß sie von anderen als phantasierten Wirkungen nichts berichten können. Wie auch, wenn die Ergebnisse ihrer Lernstandserhebungen und Standard–Überprüfungen immer deprimierender ausfallen? Diese Leute sind mit dem Problem geschlagen, daß sie mit jedem teuer bezahlten Ergebnis ihrer Forschung ein Stück mehr von der Wirkungslosigkeit verraten müssen, zur der sie verurteilt sind, weil sie vom Meßgegenstand, der Bildung junger Menschen, nichts verstehen.

Möglicherweise drängen der Auftraggeber, der BMBF und die DFG, die dessen Mittel exklusiv weiterreicht, und vor allen Dingen die Länder auf einen Strategiewechsel in der Öffentlichkeitsarbeit. Das monopolistische Gehabe, keine Diskussion auf Kongressen und Tagungen zuzulassen, zu der dann offiziell auch Kritiker als Referenten geladen werden müßten, wird langsam anstößig. Vielleicht ahnt jemand den Grund dafür in der saturierten Situation der empirischen Bildungsforschung und kauft ihr nicht länger ab, sie sei die einzige seriöse Wissenschaft in Zuständigkeit für die Qualität der staatlichen Bildungsstätten.

Das muß an ihr nagen. Im mittleren Teil stößt man auf interessante, eigentlich erratische Passagen zum Modell der Kompetenzentwicklung, die in ihren konkreten Ausprägungen auf Verläufe des gelingenden oder auch mißlingenden Konzeptaufbaus zurückgeführt wird. Dies ist eigentlich die Domäne der empirischen fachdidaktischen Forschung, die vor allem in den Naturwissenschaften unmittelbar an Fragen des richtigen Unterrichts sich orientiert. Mit der Einräumung von gegebenen Fehlvorstellungen läßt sich die didaktische Qualität des Unterrichts dadurch steigern, daß er von einer in strukturell bestimmter Weise auftretenden Abweichung der bei Schülern vorhandenen von der richtigen Vorstellung über einen physikalischen Sachverhalt z. B. ausgeht. Solche Erkenntnisse nutzen die empirischen Bildungsforscher selbstverständlich, um zu items zu kommen, die einer Kompetenzstufenskala zuliebe Konzepte und Fehlkonzepte in typischer Weise provozieren und dann durch Fragen belasten. Insofern offenbart die Wirkungslosigkeit der empirischen Bildungsforschung einen gravierenden Rückfall hinter die empirische fachdidaktische Forschung. Geht es dieser um die Erforschung mißlingenden Lernens, um ihm durch einen fachdidaktisch aufgeklärten Unterricht abzuhelfen, braucht die empirische Bildungsforschung dergleichen Erkenntnisse nur, um die Abweichung der falschen von der richtigen Einsicht zu erfassen. Die empirische Bildungsforschung hört also da auf, wo die empirische fachdidaktische Forschung erst beginnt, Ziele und Konzepte didaktisch sinnvoller Intervention in fehlgehenden Konzeptaufbau bei Schülern zu identifizieren. Welchen Nutzen hätte man aus den Millionen an Forschungsmitteln, die der Bund für die Etablierung und Alimentation der empirischen Bildungsforschung aufgebracht hat, ziehen können, wenn man stattdessen in die Lehrerbildung durch Stärkung der empirischen fachdidaktischen Forschung und der Unterrichtsforschung investiert hätte?

In einem nicht weniger Erstaunen auslösenden dritten Abschnitt gehen die beiden Autoren mit der bekannten Schelte der Erziehungswissenschaft und ihre Rolle in der Lehrerbildung auf diese schiefe Situation ein, das Mißverhältnis zwischen dem Aufwand, der der empirischen Bildungsforschung zuliebe betrieben wird, und deren Ertrag. Die eigene Bildungsferne, verstanden in dem Sinne, daß sie vom Sich bilden und Sich entwickeln der Schüler nichts wissen, weil sie Ergebnisse des Lernens erheben, statt deren Entstehung zu verstehen, diese Distanz zum wirklich forschungswürdigen Gegenstand invertieren sie zum Vorwurf, die erziehungswissenschaftlich argumentierenden Kritiker der empirischen Bildungsforschung interessierten sich nicht für die Ergebnisse der Kompetenzmessung. Dabei schließen diese Kritiker nicht die Mentalgeodäten und Geistscheider von der Diskussion aus, sondern umgekehrt.
Der Beitrag von Klieme und Leutner soll den Eindruck erwecken, das sei ganz anders. Erstens zeitige die empirische Bildungsforschung pädagogisch erfreuliche Wirkungen, sie trage zudem Wesentliches zur fachdidaktischen Forschung bei und sie werde trotz ihrer wissenschaftlichen Qualitäten von den ihr übel gesonnenen Kritikern verkannt. Zweitens muß sie ihren möglicherweise schon nörgelnden politischen Gönnern und Geldgebern einen Beweis für ihre Verständigungsbereitschaft auf einem akzeptablen wissenschaftlichen Diskussionsniveau liefern, freilich ohne auch nur im Geringsten von ihrem Anspruch auf das einmal errungene Monopol abzurücken.

Beide Ziele erreicht sie nur mit den Mitteln der Apologie. Das nährt folgende Vermutung: Die allseits erwartete Wirkung der empirischen Bildungsforschung, sie vermöchte nicht nur zu sagen, wie schlimm es in deutschen Haupt– und Realschulen zugeht, sondern auch, was dagegen zu tun sei, ist gar nicht ihr Problem. Sie greift im Bewußtsein der eigenen pädagogischen Impotenz zum Mittel der Apologie, um eine Wirkung zu fingieren. Sie möchte einfach weitermachen wie bisher. Ihre Reaktion soll sie und ihr Geschäftsmodell retten. Etwas anderes scheint sie nicht zu interessieren.