Veröffentlicht am 01.08.12

›zukunftsfähig‹

Was waren das für Zeiten, als das Wörtchen ›neu‹ in der Werbung noch unser Begehren kitzeln konnte und das Aufsatzthema: »Wie stelle ich mir das Jahr 2000 vor?« die Phantasie von Grundschülern beflügelte? Alle waren damals sicher, dass die Kinder heute mit Raumschiffen zur Schule fliegen würden, denn die Zukunft war mit Wünschbarkeiten zu bevölkern und der goldene Erfüllungsweg hieß Fortschritt.

Ja, früher war alles besser, sogar die Zukunft, wusste schon Karl Valentin. Wir fahren unsere Kinder immer noch mit dem Auto zur Schule, und auch die Zukunft ist irgendwie in die Jahre gekommen und mit der Zeit ziemlich anspruchsvoll geworden: Sie weigert sich nicht nur, uns unsere Träume zu erfüllen — im Gegenteil: wir sollen uns ihrer als fähig erweisen: der Einzelne, die Gesellschaft, Standorte, Unternehmen, Gedanken und Elektrogeräte. Insbesondere die Bildungseinrichtungen müssen dringend durch ambitionierte Gesetze reformiert werden: Vom Kindergarten bis zu dem, was früher einmal Universität genannt wurde, stehen sie auf der Rampe … pardon, Schwelle zur Zukunft und müssen beweisen, dass sie ihren strengen Ansprüchen standhalten können. Dazu bedarf es einer gewissen Flexibilität und der Bereitschaft zu spontanen ›Bekenntnissen‹. An der Universität Bonn gelang es beispielsweise dem Institut für Musikwissenschaft, das Verfallsdatum der eigenen Disziplin durch die Umtaufung zu ›sound studies‹ zu verlängern. Aber aufgepasst: auch ›Germanistik‹ klingt offengestanden nicht mehr besonders zukunftsfähig, so dass man gut daran täte, von ›german studies‹ zu sprechen, wenn man weiter bestand haben will. Die angeführten Beispiele blieben Anekdoten, über die man schmunzeln könnte, wenn es denn den Konvertiten gelingen würde, unter neuem Etikett ihrem alten Auftrag weiter nachzugehen. Doch die Inquisition im Namen der Zukunftsfähigkeit ist unerbittlich und durch Lippenbekenntnisse allein entkommt niemand dem autodafé. Die einschlägigen ›think-tanks‹ haben mit dem couranten ›buzzword‹ ein gewaltiges Dispositiv errichtet, von dem aus eine radikale Revision aller Bereiche des öffentlichen Lebens entfesselt werden konnte. Das begriffspolitische Kalkül hinter dieser Wortschöpfung vollzieht den Abbruch einer langen Geschichte der Zukunft, denn fortan existiert sie nur noch als unumgänglicher Sachzwang, der ein Denken und Handeln in Alternativen weit hinter sich gelassen hat. Sie vollzieht sich nicht mehr im Rahmen einer höheren idealen Wirklichkeit, noch ist sie entelechische Ausgeburt des Gegenwärtigen oder offener Horizont der Bildung von Mensch, Individuum oder Subjekt. Erinnerungen an so etwas wie Heilsgeschichte, Dialektik, Fortschritt, Projekt, Utopie, Entwurf, ewige Wiederkehr und selbst an das apostrophierte ›Ende der Geschichte‹ verblassen wie Tinte in alten Schulheften.

Die Umschrift der Zukunft zum Sachzwang hat nicht nur für den Raum des Politischen erhebliche Auswirkungen, in dem es ehemals produktive Unterscheidungen, wie etwa die Grundüberzeugungen der politischen Lager von rechts bis links, nivelliert. Auch die Pädagogik, die aufgrund ihrer anthropologischen Fundierung im Phänomen der Generativität je schon einen konstitutiven Zukunftsbezug aufgewiesen hat, sieht sich einem erheblichen Legitimationsdruck ausgeliefert. Geraten nämlich die Fragen nach Bildung und Erziehung in den Dominanzbereich ausgemachter Sachzwänge, verkümmert Pädagogik zu einer Dienstleistungsagentur für die Produktion von Zukunftsbefähigung — inkl. der Aufgabe zur Selektion derer, die dieser Zukunft leider nicht fähig sind! Das wird dann im neoglobalen (Winfried Böhm) Jargon ›Chancengerechtigkeit‹ genannt. Ihre Zuständigkeit für die Ziele von Erziehung und Bildung, ihre advokatorische Relevanz für das Eigenrecht des Einzelnen, des Anderen usf., ihr Gewissen in der Frage nach den geeigneten Mitteln büßt die Pädagogik damit unwiederbringlich ein. Wer bilanziert die Verluste? Wer dokumentiert den Abbruch? Wer trauert um das Getilgte im Namen der Zukunftsfähigkeit? Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht um ein trotziges Festhalten an fragwürdigen Motiven der Tradition wider bessere Einsicht oder im Umfeld diffuser Machtverhältnisse. Es geht vielmehr darum, Spielräume des Denkens und Handelns zurückzugewinnen, in denen allein die Frage nach Alternativen das lebendige Plasma offener Zukunft bilden könnte. Resistenzen gegen eine Zukunft, die als nihilistische Apokalypse der Sachzwänge diktiert wird, sind unscheinbar, aber machtvoller, als man uns glauben machen möchte: Die memoria, die im Zusammenhang von Herkunft und Zukunft nicht allein und zuerst an ›Migrationshintergrund‹ und ›Sachzwang‹ denkt. Das Bekenntnis, das zukunftsarmierten Flexibilitätsimperativen widerspricht: ›Hier stehe ich und kann nicht anders!‹ Das Politische, das unterhalb von medialen Inszenierungen und ermüdeten Institutionen, Macht und Verantwortung im einvernehmlichen und widerstreitenden Handeln gewinnt. Das Denken, das Begriffe nicht daraufhin beurteilt, ob sie sich gut verkaufen lassen, sondern ob sie in der Lage sind, Sachansprüche auszutragen. Vielleicht ist es an der Zeit, die angemaßte Definitionshoheit über das, was Zukunft sei, auf ihre Legitimität hin zu befragen.

(Quelle: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 4/07)