Veröffentlicht am 18.05.12

Die Bildungsdebatte vom 10. Mai 2012 im besten Parlamentsfernsehen, das es je gab

Das Parlamentsfernsehen wurde 1999 mit dem Umzug des Deutschen Bundestages nach Berlin geschaffen und gibt dem Artikel 42 des Grundgesetzes seine zeitgenössische  Realität. Seit Einführung des Parlamentsfernsehen kann man in einer ganz neuen Weise sagen: „Der Deutsche Bundestag verhandelt öffentlich.“ Jetzt werden alle Plenardebatten live sowie öffentliche Ausschusssitzungen und Anhörungen unkommentiert und in voller Länge übertragen. Und nicht nur das. In der Mediathek können Aufzeichnungen aller Plenar- und Ausschußsitzungen, Interviews und Reportagen seit Oktober 2009 angesehen und heruntergeladen werden. Ältere Aufzeichnungen aus der Zeit vor Oktober 2009 sind im Videoarchiv abrufbar.

Die bildungspolitisch relevanten Downloads aus der Plenarsitzung vom 10.5.2012 finden sich hier:

TOP 4 Kooperation bei Bildung und Wissenschaft; (zum sogenannten Kooperationsverbot)

TOP ZP4 Aktuelle Stunde zu Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld

TOP 9 Umsetzung des Bologna-Prozesses

Kommentar MP

Das Parlamentsfernsehen und seine Mediathek sind perfekt gemacht: vollständig, übersichtlich und leicht zugänglich. Alles funktioniert aufs Angenehmste und der an der parlamentarischen Auseinandersetzung und Willensbildung interessierte Bürger ist schon fast bereit von einem Glanzpunkt in der Entwicklung unserer Demokratie zu sprechen. Doch der Glanzpunkt ist nur eine verspätete Inszenierung, ein letztes Aufflackern. Das Parlamentsfernsehen wurde nämlich eingerichtet in einer Zeit, in der das Parlament schon längst dabei war, seine Bedeutung als Organ der Gesetzgebung und Regierungskontrolle zu verlieren. Mit der neoliberalen Politik der rot/grünen Regierung ist die bis dahin eher schleichende Entmachtung des Parlaments sogar noch forciert worden. Belege dafür lassen sich leicht anführen. Da sind  die privatwirtschaftlich finanzierten Lobbyisten aus Industriekonzernen und Finanzwelt – darunter Mitarbeiter der Deutschen Bank –, die Schily 2004 in einem sogenannten „Personalaustauschprogramm“ als „Leihbeamten“ in die Ministerien geholt hat und die dann z.T direkt an der Formulierung von Gesetzen beteiligt waren. Da ist – in umgekehrter Richtung – das Outsourcing der Gesetzgebungstätigkeit an private Anwaltskanzleien und Beraterfirmen. Da ist die Verlagerung von Entscheidungen in vor- und außerpalamentarische Expertenzirkel, die Gesetzentwürfe formulieren und diese dann kurz vor der Abstimmung unter großem Zeitdruck als „alternativlos“ den Fraktionen nur noch zur Kenntnis geben. Da ist der jüngste Versuch einer Einschränkung des Rederechts für Abgeordnete mit abweichender Meinung und da ist schließlich der Fiskalpakt, der nicht nur mit seinem Spardiktat nach deutschem Vorbild den weiteren Sozialabbau in ganz Europa erzwingt, sondern auch das „Königsrecht“ der Parlamente, das Budgetrecht, massiv beschneidet und z.T. auf die nicht gewählte EU-Kommission überträgt. Dass dieser Fiskalpakt über keine Kündigungsklausel verfügt, zeigt den Ernst der Lage und bedeutet, wenn er durchkommt, die auf Dauer gestellte Selbstentmachtung der Parlamente Europas.

Vor diesem Hindergrund wirken die Debatten im Bundestag oft ziemlich artifiziell, unwirklich, um nicht zu sagen gespenstisch. Das gilt auch für die Bildungsdebatte am 10. Mai 2012. Man hat den Eindruck, dass alle Argumente schon tausendfach vorgetragen worden sind und die Gegenargumente auch.

Dass das 2006 eingeführte sogenannte „Kooperationsverbot“ zwischen Bund und Ländern für die Fortentwicklung des Bildungssystems hinderlich war und wieder gelockert werden muss, wird von niemandem mehr bezweifelt. Die Redner der Regierungskoalition wollen diese Lockerung allerdings nur für den Bereich von Wissenschaft und Forschung vornehmen und verteidigen die Schulhoheit der Länder in neoliberaler Manier als Voraussetzung von Wettbewerb und Vielfalt im Bildungswesen. Die Redner der Opposition dagegen plädieren für die „große Lösung“. Sie fordern die Lockerung des Kooperationsverbotes auch im Bereich der Grundbildung und der Schulen und begründen dies u.a. mit dem Hinweis auf die soziale Verantwortung des Bundes für den Ausbau ganztägiger Angebote und für die Verwirklichung der Inklusion. Das sind die starren Positionen und sie werden unermüdlich und immer wieder vorgetragen. Im Grunde hört keiner auf den anderen.

Für die Debatte zum Betreuungsgeld scheint das gleiche zu gelten. Auch hier ist schon alles gesagt. Das Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder nicht in eine Kindertagesstätte schicken, wird geschlossen nur noch von der CSU gefordert. Die CDU ist in dieser Sache gespalten und die FDP lehnt es ab, will es aber aus Koalitionstreue mittragen. Für die Mehrheit liegt die Priorität beim Ausbau der Kitas. Das ist schnell klar und wird trotzdem ständig wiederholt.

In der Debatte zu TOP 9 ist es auch nicht viel anders, nur dass die gewohnte Schönrednerei auf Regierungsseite hier besonders auffällt und kuriose Formen annimmt. So hört man aus dem Munde des parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium für Bildung und Forschung Dr. Helge Braun, dass sich bei der Bologna Konferenz vor wenigen Wochen in Bukarest „auf deutsche Initiative 47 Staaten im Bologna-Kommuniqué dazu bekannt haben, dass Hochschulbildung neben der Weitergabe von fachlichen Erkenntnissen auch zum selbstbewussten und kritischen Menschen hin ausbilden soll.“ Was soll man davon halten? Ist das ein Witz? Wenn schon die Weitergabe von fachlichem Wissen in den neuen nach Bologna entstandenen Studiengängen nicht gelingt, wie soll dann erst die Ausbildung zum selbstbewussten und kritischen Menschen in diesem Rahmen gelingen? Die Ausführungen von Dr. Braun enthalten dazu keinerlei Angaben. Sie sind entweder reine Propaganda oder Ausdruck fortgeschrittenen Realitätsverlustes, wahrscheinlich sogar beides. Im Grunde ist das aber nicht überraschend. Dr. Brauns Rede ist nur ein herausgehobener Sonderfall. Der Realitätsverlust ist auch in anderen Debattenbeiträgen zu erkennen. Nur in seltenen Augenblicken, meist in den Reden einiger Oppositionspolitiker, dringt die Bildungswirklichkeit bis in den Plenarsaal vor (etwa bei Dagmar Ziegler (SPD), Rosemarie Hein (Die LINKE) und Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Aber auch dann erscheint sie nur in Form einer begriffslosen Addition von einzelnen Missständen, die umgehend in eine ebenso begriffslose Addition von einzelnen Forderungen übersetzt werden. Dass diese uninspirierte Art der politischen Realitätsbewältigung bei der Koalitionsfraktion sofort den Vergleich mit einer „Wünsch-Dir-was-Sendung“ provoziert, darf niemanden wundern. Zu einer grundsätzlichen Kritik der Bildungspolitik im allgemeinen und des Bolognaprozesses im besonderen jedenfalls kann sich die Opposition nicht durchringen. Kritisiert wird immer nur die Umsetzung. „Nicht die Bologna-Reform an sich, sondern die Umsetzung in Deutschland ist das Problem“ (Kai Gehring BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Eine grundsätzliche Kritik hätte den Zusammenhang zwischen der Bildungsreform und dem neoliberalen Sozial- und Demokratieabbau aufdecken müssen und hätte von den Grünen und der SPD eine tiefgreifende Selbstkritik verlangt. Dazu sind diese beiden Agenda-Parteien aber offenbar nicht fähig.

So erhält die Debatte am 10.Mai 20012, am Vorabend der NRW Wahl, mit ihren starren Positionen und aneinandergereihten Textbausteinen den Charakter einer rituellen Show, in deren Verlauf die Akteure ihren erkennbaren Macht- und Realitätsverlust durch trotzig betontes Selbstlob („Jawohl wir haben die Bildungsrepublik, wir sind auf dem Weg dahin. Das ist ein gemeinsamer Erfolg, den soll man nicht klein reden“, Michael Kretschmer CDU) und durch deftige Zwischenrufe und Repliken („Reden sie doch nicht so dumm daher, Herr Dobrindt“, Marianne Schieder SPD) zu kompensieren versuchen.

Und während die Abgeordneten in Berlin vor den Objektiven des besten Parlamentsfernsehens, das es je gab, die demokratische Willensbildung weiter simulieren, wird im Bankenviertel von Frankfurt, dem eigentlichen Machtzentrum der Republik, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt.