Veröffentlicht am 09.04.15
Unter dem Joch der Digitalisten
in: FAZ vom 9. April 2015, S. 7 (Bildungswelten)
Die große Koalition hat im Antrag 18/4422 den Deutschen Bundestag aufgefordert, die „Förderung der Medienkompetenz“ zu beschließen, die „digitale Bildung“ an Schulen voranzubringen und die digitale Spaltung zu überwinden. (März 2015) Gemeinsam mit den Ländern und Bildungsträgern sei ein „Pakt für Digitale Bildung“ ins Leben zu rufen, der die Aktivitäten von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bündele. Es sei, so die Informatikern Saskia Esken, selbstverständlich, dass digitale Bildung altersgerecht unterrichtet werden müsse: ab der Grundschule. Es gehe, so der ehemalige Gymnasiallehrer Sven Volmering, nicht darum, ständig neue Fächer zu schaffen wie bei der Forderung der Wirtschaftsverbände nach dem Fach „Wirtschaft“ oder der Forderung des Digitalverbandes Bitkom nach einem Fach „Informatik“, sondern um „didaktisch abgesicherte Konzepte für eine digitale Grundbildung“.
Nicht nur Pädagogen dürften sich wundern. Bereits sprachlich werden (unreflektiert oder beabsichtigt) Worthülsen der IT-Industrie übernommen, die weder mit Lehren oder Lernen noch mit Bildungsprozessen korrespondieren. Es gibt zum Beispiel keine „digitale Bildung“. Der Begriff Digital (von digit: Finger, Ziffer) beschreibt die technische Codierung von Zeichen und Signalen in binären Systemen (0/1) und deren Übertragung in Netzwerken. Digitalisiert und digitalisierbar (d.h. maschinenlesbar) sind Inhalte, vom Text bis zum audiovisuellen Film oder interaktiven Spiel, nicht aber Bildungs- oder Lernprozesse.
Computer, Software und Netzwerke sind Voraussetzung für die Produktion und Nutzung von digitalen/digitalisierten Medien, vergleichbar mit einer Bibliothek. Der Zugang zu Medien in der Bibliothek ist Voraussetzung, um damit arbeiten und lernen zu können, ersetzt aber weder Lektüre noch Lernprozesse, die Voraussetzung für Bildungsprozesse werden können. Digitale Bücher oder Filme selbst sind nur eine andere Form technischer Codierung und Speicherung. Sie bringen, siehe Hattie-Studie, in der Schule keinerlei Vorteil. Daher ist mit aller notwendigen Klarheit zu formulieren: Es gibt weder fachliche noch fachdidaktische noch pädagogische Notwendigkeiten, digitale Medien und Lehrmittel zwingend im Unterricht einzusetzen. Die einzigen, für die der Einsatz digitaler Techniken und Medien in (Hoch-)Schulen tatsächlich von Bedeutung ist, sind die Anbieter von Hard- und Software, die ihre Umsätze durch ständig zu aktualisierende IT-Produkte und Dienste auch an staatlichen Schulen verstetigen können. Alle Lehr- und Lernmedien, die heute in digitalisierter Form angeboten und genutzt werden, gab es bereits in vordigitalen Zeiten – mit exakt einer Ausnahme: dem ständigen Rückkanal bei Onlinemedien, mit dem alle Aktionen jedes einzelnen Nutzers protokolliert und an die Hersteller übertragen werden, die daraus personalisierte Profile erstellen (können).
In den USA ist daher das Tracken von Schülerdaten (der Datenverkehr in und zwischen Schulen) durch den Childrens Online Privacy Property Act (COPPA) verboten. Amerika schützt Kinder und Jugendlichen bzw. deren Daten juristisch mit Androhung hoher Bußgelder vor den Begehrlichkeiten der Netzmonopolisten.
Erstaunlich auch: Die (digital-)technikaffinen USA lösen Laptop- und Tabletklassen mangels Nutzen wieder auf, während der deutsche Bundestag bereits Grundschüler ins Netz schickt?
Die erste Forderung muss daher lauten: Schulen vom Netz – bis die Rechtsgrundlage für den Datenschutz minderjähriger Schutzbefohlener (das sind Schüler/innen juristisch) sichergestellt ist. Personenbezogene Daten Minderjähriger dürfen weder gespeichert noch für deren Profilierung missbraucht werden. Daraus ergibt sich logisch die Forderung nach dem Aufbau sicherer Netzwerke (Hardware, Software, Protokolle, Verschlüsselung), mit denen in und zwischen Schulen Daten nach deutschen bzw. kontinentaleuropäischen Regeln ausgetauscht werden können. Diese lokalen und regionalen Netzwerke sind zwar das „gruseligste“, was sich Google-CEO Eric Schmidt vorstellen kann: die Balkanisierung des Netzes. Datenlokalisation bedeute, „dass die Daten nicht mehr einer amerikanischen Firma gehören“. Google eben. Das dürfte aus politischer wie pädagogischer Sicht zu verkraften sein, sollte sogar Ansporn zum Aufbau eigener Infrastruktur und Netzwerke sein.
Selbst die Begründung für Digitaltechnik in Schulen ist dürftig. Digitale Anwendungen böten „enorme Potentiale für das lebensbegleitende Lernen über alle Altersgruppen der Bevölkerung hinweg“ und erlaubten „flexibles, zeit- und ortsunabhängiges Lernen“. Das gilt genau so für jedes anaolge Buch. Wer durch Kommunikationstechnik das „individualisierte und kooperative Lernen erleichtern“ will, könnte mit mehr Recht Lehrer und Betreuer einfordern. Denn zwei Prämissen gelten für jedes Lernen. Jede(r) muss, was er oder sie wissen und können möchte, selbst lernen. Lernen ist Eigenleistung. Zugleich lernen Menschen von und mit anderen. Lernen ist immer auch ein sozialer Prozess. Dazu braucht man keine Technik, sondern die Präsenz aller Beteiligten.
Wer stattdessen Technik als Bedingung für inklusive Bildungssettings, Chancengerechtigkeit der Bildungssysteme und neue Lernansätze durch „Game-Based Learning“ fordert, macht sich nur zum Büttel der IT-Lobbyisten. Dazu passt, dass Bundestag und Verbände der Computerspiele-Industrie unisono begrüßen (sollen), dass „serios games“ weiterentwickelt und ausgezeichnet werden. Dazu passen Forderungen nach Bereitstellung der technischen Infrastruktur und die Anbindung aller Schulen an das Breitbandnetz, die Konzeption und Standardisierung der internen Netze und Server samt professioneller Pflege aus Haushaltsmitteln sowie Programmierunterricht schon in Grundschulen, wo doch zunächst Sprach- und Leseförderung nötig ist.
Doch selbst mit sicheren Netzen blieben Termini wie digitale Bildung oder Online-Bildung (Bill Gates in seinem Jahresbrief 2015) Worthülsen. Man muss den Begriff „digitale Bildung“ nur auf analoge Medien übertragen, um den Sprachnonsens zu identifizieren. Dann wären bereits Bücher an sich „analoge Bildung“. Wer über Bildung spricht (und im Bundestag abstimmt), muss präzise formulieren. Sonst entstehen Pressemeldungen wie aus dem Wirtschaftsministerium. Gesche Joost wird darin als „digitale Botschafterin“ gepriesen, was semantisch bedeutet, dass sie ein Avatar, eine Computeranimation. ist (BMWi, 19.3.2014).
Soziale Selektion durch Digitaltechnik
Auch wer die „digitale Spaltung“ durch Digitaltechnik überwinden will, konterkariert das beabsichtigte Ziel durch Ausstattung der Schulen mit Digitaltechnik. Beispiel Salem. Die Lehrenden waren es leid, vor übernächtigten „Smartphone-Zombies“ zu unterrichten, die sich nur für ihre Geräte und Facebook-Profile interessieren. Alle internetfähigen Geräte werden daher um 21.30 Uhr eingesammelt, übrigens mit Einverständnis der Eltern. Die 13- bis 16-jährigen Schülerinnen und Schülern bekommen ihre Laptops und Tablets für Unterrichtszwecke zu Schulbeginn zurück, Smartphones erst nach dem gemeinsamen Mittagessen. Das heißt: Wohlhabende Eltern statten ihre Sprösslinge mit den neuesten Geräten aus (dafür werden Eltern geliebt), überlassen die Reglementierung eines lernförderlichen Umgangs (das Wegschließen der Smartphones über Nacht, was weniger goutiert wird) hingegegn dem Lehrpersonal. Seitdem schlafen die Internatszöglinge überwiegend gutsituierter Eltern nachts wieder und nehmen ausgeschlafen am Unterricht teil. Dagegen können öffentliche Einrichtungen Kinder und pubertierende Jugendliche, jetzt auch mit Bundestagsbeschluss, gar nicht früh genug an digitale Geräten gewöhnen?
Diese Variante der „digitalen Spaltung“ spiegelt sich bei Onlinekursen wider. Der Präsident des Massachusetts Institute of Technology (MIT) bezeichnet zwar das Online-Lernen und den Einsatz von Onlinekursen als „Zukunft des Lernens“ – aber nur als Ausbildung für Externe, nicht für Studierende am MIT (NZZ vom 21.1.2015). Online-Kurse mit Zertifikaten würden zwar einen Wert für Job-Bewerbungen haben, es werde aber keinen MIT-Master online geben, weil man dazu Teil der Gemeinschaft auf dem MIT-Campus sein müsse. Die Präsenzlehre und das gemeinsame Lernen bleibt denen vorbehalten, die es sich leisten können. So werden soziale Unterschiede in allen Altersstufen und Bildungseinrichtungen via Digitaltechnik abgebildet und verstetigt.
Gesundheit und Bildung sind die beiden Systeme, die als nächstes auf der Agenda der Digitalisten stehen und mittels technischer Infrastruktur und Netzwerken kontrolliert und gesteuert werden sollen. Dann bestimmen Algorithmen, ob und welche Behandlungen ein Patient bekommt oder welches Lernmodul dem Lernling als nächstes auf dem Display oder Touchscreen eingespielt wird. Es sind zwei Systeme, die extrem empfindlich auf effizienz- und profitmaximierende Ökonomisierung reagieren, da sowohl ärztliche Beratung und Behandlung wie Lehr- und Lernprozesse auf gegenseitigem Vertrauen, Achtung, Respekt und Emphatie beruhen. Wer nurmehr quantifiziert und algorithmisch regelt, nimmt diesen Systemen alles Humane. Das zu verhindern ist Aufgabe der Bundestagsabegordneten und Kultusministerien ebenso wie der Eltern- und Lehrerverbände. Es wäre erschreckend, wenn sie stattdessen dem Steuerungswahn der Digitalisten zu folgten.
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Tags: Bildungssettings > digitale Medien im Unterricht > Kybernetisierung von Unterricht > Online-Bildung
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