«Gibt es dieses Jahr weisse Weihnachten?» Die Frage beschäftigt viele. Schon Wochen im Voraus werden Meteorologen bestürmt und bekniet. Doch erzwingen lässt sich der Schnee nicht, punktuell herstellen schon. Gedanken zur Unverfügbarkeit in Schule und Gesellschaft.
Von Carl Bossard
Wir glauben, wir könnten alles beherrschen. Alles berechnen, alles vorhersehen, alles verfügbar machen. Algorithmen sagen voraus, wie wir handeln, Navigations-Apps, wann wir ankommen, Lernsoftware, was das einzelne Kind weiss. Die moderne Lebensform – so der deutsche Soziologe Hartmut Rosa – sei vom Begehren nach Verfügbarkeit getrieben: Unsicherheiten sollen beseitigt, Störungen vermieden, Prozesse optimiert werden. (1) Handfest gesagt: «Wir möchten alles im Griff haben.»
Doch diese Herrschaft über die Welt bleibt brüchig. Denn dort, wo Beziehungen ins Spiel kommen – zwischen Menschen, zwischen Mensch und Natur –, entzieht sich Wesentliches unserem Verfügungswillen. Das Lebendige entgleitet uns immer wieder.
Die Verfügbarkeitsphantasie der Moderne
Das gilt im Persönlichen, Politischen, Pädagogischen. Unterricht ist nicht die Umsetzung eines Plans, sondern ein Beziehungsgeschehen. Er lebt von verschiedenen Diskursereignissen, von Offenheit und vom Unplanbaren: ein unerwarteter Gedanke, ein Moment des Verstehens, die plötzliche Aufmerksamkeit einer Klasse.
Solche Augenblicke lassen sich vorbereiten, aber nicht erzwingen. Je stärker wir versuchen, sie herzustellen, desto eher entfliehen sie. Für das Phänomen des Unverfügbaren wählt Hartmut Rosa ein Bild, das viele unmittelbar berührt: den ersten Schneefall.
Der erste Schneefall als Sinnbild
Rosa schreibt: «Erinnern Sie sich noch an den ersten Schneefall Ihrer Kindheit? Es war wie der Einbruch einer anderen Realität: Etwas Scheues, Seltenes, das sich herabsenkt und die Welt verwandelt, ohne unser Zutun – ein unerwartetes Geschenk. Der Schneefall ist die Reinform des Unverfügbaren: Wir können ihn nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen. Und mehr noch: Wir können des Schnees nicht habhaft werden. Wenn wir ihn in die Hand nehmen, zerrinnt er; holen wir ihn ins Haus, fliesst er davon. […] Vielleicht sehnen sich deshalb so viele Menschen – nicht nur Kinder – nach weissen Weihnachten.
In unserem Verhältnis zum Schnee spiegelt sich das Drama des modernen Weltverhältnisses: das Begehren, Welt verfügbar zu machen – und die Erfahrung, dass Lebendigkeit und wirkliche Berührung aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren entstehen.» (2)
Der Schneefall ist mehr als ein meteorologisches Ereignis. Er unterbricht, verlangsamt, verändert Rhythmen – und entzieht sich Erwartungen.
Die Zumutungen des Unverfügbaren
Die moderne Kultur reagiert darauf oft mit Gegenbewegungen: Sie versucht, das Unverfügbare zu zähmen. Alles soll planbar, vorhersehbar, steuerbar werden. Der Zufall wird zum Betriebsrisiko, das Unvorhersehbare zum Störfaktor.
Auch die Schule bleibt von diesem Drang nicht verschont. Lehrpersonen sollen Leistungen garantieren, Lernprozesse beschleunigen, Störungen ausschliessen. Doch Lernen bleibt ein offenes Geschehen. Die entscheidenden Bildungserfahrungen – Selbstwirksamkeit, Entdeckung, Irritation – entstehen oft dort, wo der Plan scheitert, wo Fragen sich auftun, die niemand vorhergesehen hat. Bildung beginnt, wo Unverfügbarkeit zugelassen wird.
Weisse Weihnachten als Ahnung von Resonanz
Vielleicht erklärt das die Sehnsucht, die sich mit weissen Weihnachten verbindet. Der Schnee verspricht nicht Kontrolle, sondern ein anderes Verhältnis zur Welt: eines, das Resonanz ermöglicht, weil es sich nicht erzwingen lässt. (3)
Was in Schulen fehlt, ist selten weiteres «Management» oder zusätzliche Vorschriften, sondern Beziehung, Resonanz, gegenseitige Ansprechbarkeit. Lehrpersonen erfahren täglich, wie wenig sich Lernen herstellen lässt. Ob ein Funke springt, ob sich eine Klasse öffnet, ob eine Aufgabe innerlich berührt – all das entzieht sich Verfügbarkeitslogiken und Steuerungsphantasien. Prüfungen, Kompetenzraster, Lehrpläne schaffen Orientierung; doch sie garantieren nicht, ob junge Menschen sich bilden. Bildung geschieht, oder sie geschieht nicht. Sie bleibt dem Kontingenten unterworfen.
Gerade gegenwärtige gesellschaftliche Erwartungen verstärken den Drang nach Verfügbarkeit. Eltern wünschen planbare Resultate; Politik verlangt Wirksamkeitsnachweise; Schulen müssen Qualitätssicherung betreiben. So wächst subtil der Druck, Lernen müsse kontrollierbar sein. Wer Unterricht plant, soll scheinbar garantieren, dass Kompetenzen sich einstellen. Doch Lehrpersonen wissen um das Paradoxe: Unterrichten heisst, Räume zu öffnen – ohne Gewissheit über das, was darin geschieht. Das verlangt Demut – und professionelle Stärke.
Das Entscheidende lässt sich nicht erzwingen
Resonanz, schreibt Rosa, entsteht nicht durch Optimierung, sondern durch Berührbarkeit. Menschen – Schülerinnen, Schüler, Lehrpersonen – bleiben Subjekte, die antworten oder nicht. Das pädagogische Ethos besteht deshalb weniger im Herstellen als im Ermöglichen. Unterricht kann vorbereiten, irritieren, herausfordern; er kann Atmosphäre schaffen, Beziehungen pflegen. Aber ob sich Einsicht ereignet und Verstehen, ob ein Gedanke Wurzeln schlägt, lässt sich nicht erzwingen. Diese Unverfügbarkeit ist keine Schwäche professioneller Gestaltung, sondern ihr Möglichkeitsgrund.
In einer Schule, die Unverfügbarkeit anerkennt, wird Scheitern nicht als Fehler interpretiert, sondern als Teil des Lernprozesses. Momente des Nichtwissens, des Suchens, des Staunens werden möglich – wie der Schneefall, der uns innehalten lässt, ohne dass wir ihn bestellt hätten.
Ein Plädoyer für das Offene
Diese Haltung könnte modellhaft sein – für Schule und Gesellschaft. Eine demokratische Kultur lebt von offenen Prozessen, von der Anerkennung dessen, was sich nicht planen lässt: Konflikte, Verständigung, Wandel.
Wer Demokratie oder Bildung restlos verfügbar machen will, entzieht ihnen den Atem – als liesse sich über den Schneefall nach Belieben verfügen.iii Deshalb wäre die Frage nicht, wie wir Verfügbarkeit maximieren können, sondern wie wir Räume schaffen, in denen Unverfügbarkeit möglich bleibt – in denen etwas entstehen darf, ohne dass wir schon genau wissen, was.
Vielleicht liegt in dieser Bereitschaft, nicht alles besitzen zu wollen, der Anfang einer anderen Freiheit – einer Freiheit, die das Gelingen nicht erzwingt, sondern empfängt. So wie Schnee, der fällt. Es ist vielleicht diese Haltung, die in Schule und Gesellschaft die Erfahrung ermöglicht: Lernen, Begegnung und lebendige Prozesse gelingen, wenn wir nicht darüber verfügen wollen, sondern offen bleiben und bereit, von ihnen berührt zu werden – wie vom ersten Schnee im Winter. Manchmal sogar an Weihnachten.
- Hartmut Rosa (2019), Unverfügbarkeit. Wien – Salzburg: Residenz Verlag GmbH.
- Ebda., S. 7-8.
- Ders. (2016), Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
