Veröffentlicht am 11.11.13

Messen und indoktrinieren

Gastkommentar von Armin Volkmar Wernsing

Die in der F.A.Z. vom 8. 11. 2013 unter dem Titel „Ein nützliches Hilfsmittel zum Lernen und Lehren? Die Kompetenzmessung hat direkte Auswirkungen auf Lehrerhandeln und Unterrichtspraxis sowie politische Entscheidungen“ erschienene Verteidigung der Kompetenzpädagogik von Eckhard Klieme und Detlev Leutner ist unter vielen Aspekten unklar, ja unverständlich, wirr und widersprüchlich.

Man nehme nur die Einleitung, in der „entdeckendes Lernen“ in einer Grundschulklasse geschildert und ein diagnostisches Instrument zur Kompetenzmessung vorgestellt werden soll. Worum geht es in dieser Unterrichtsreihe im Fach Sachkunde? Hier sollen die Schüler anhand der Frage, „wie der Absender einer Flaschenpost seine einsame Insel verlassen könnte“, Konzepte wie „Form“, „Größe“, „Gewicht“, „Dichte“, „Auftrieb“ von Gegenständen entwickeln. Nun ist schon die Ausgangssituation derart abstrakt und didaktisch reduziert, dass die Schüler schwerlich in die Lage kommen werden, das Problem „entdeckend“ zu lösen. Man nehme an, der Verfasser der Flaschenpost habe sich bereits entschieden, die Insel mit einem Floß verlassen zu wollen und nicht etwa Hilfe durch ein Schiff oder ein Fluggerät anzufordern, dann muss gleichwohl im Text der Botschaft vorgegeben werden, über welche Materialien dieser Robinson auf seiner Insel verfügt und welche technischen Geräte er zur Hand hat, um sein Vorhaben zu realisieren; in der Fiktion der Unterrichtsreihe braucht er Unterstützung durch die Schüler offensichtlich nur für die Entscheidung, ob für sein Floß beispielsweise Baumstämme oder T-Träger die geeigneten Materialien wären. Rousseau hatte seinen Émile immerhin noch in den Wald geführt, um ihn den Heimweg nach Montmorency finden zu lassen; hier befinden sich die Schüler in einer nur vorgestellten Situation, die aber nicht sie sich vorstellen, sondern der Lehrer oder der didaktische Leitfaden, dem er folgt. Sie werden also nur das „entdecken“, was die Vorgaben ihnen zu entdecken erlauben. Ob das die Vorgehensweise „für modernen naturwissenschaftlichen Unterricht in der Grundschule“ ist, kann ich natürlich nicht beurteilen; mit Selbsttätigkeit und Forschen, wie der Artikel suggeriert, hat sie jedenfalls nichts zu tun. Vielmehr greift der Lehrer ständig ein, stellt Fragen, „einige Denkaufgaben“ (leider erfährt der Leser nicht, welche), regt Experimente an, bildet Gruppen mit speziellen Aufgaben, gibt „individuelle Anregungen“, macht „gezielte“ Vorschläge ‒  was alles nicht etwa pädagogisch verwerflich wäre, sondern bloß nicht jene Kompetenz zu entwickeln hilft, die Robinson benötigt, nämlich ein Floß zu bauen, das nicht nur schwimmt, sondern ihn auch trägt, von den noch zu klärenden Geographie-, Antriebs- oder Navigationsproblemen, der Nahrungs- und Trinkwasserversorgung  ganz abgesehen. Vielleicht hätte es geholfen, wenn der Lehrer auf die Pseudo-Anschaulichkeit verzichtet und eine ehrliche Frage gestellt hätte: „Was schwimmt und warum?“

Der ganze Artikel als PDF: A.V. Wrnsing: Messen und indoktrinieren