Veröffentlicht am 11.09.13

Julian Nida-Rümelin und der „Akademisierungswahn“

Tempora mutantur…

Wer sich noch an die Bildungsreform der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert, wird vielleicht aufgemerkt haben, als Anfang September Julian Nida Rümelin als intellektueller Exponent der SPD in einem Interview der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ den „Akademisierungswahn“ im deutschen Bildungswesen geißelte und eine Lanze für die Berufsausbildung im Dualen System brach. Er machte damit eine ihm offenbar pathologisch erscheinende Tendenz des Bildungssystems aus, die seine Partei einst massiv unterstützt und auch maßgeblich in die Praxis umgesetzt hatte. Die politisch gewollte Bildungsexpansion als „Wahn“ zu bezeichnen, hätte Nida-Rümelin also möglicherweise an den Rand des Parteiausschlusses gebracht.

Blicken wir kurz zurück in die sechziger Jahre: Die Humankapitaltheorie, der zufolge ein hohes Durchschnittsniveau formaler Bildungsabschlüsse positiv mit dem Bruttosozialprodukt eines Landes korreliert, war gerade geboren, als Georg Picht die „Bildungskatastrophe“ ausrief und menetekelte, Deutschland würde den wirtschaftlichen Anschluss an die Weltspitze verpassen, wenn es nicht binnen zehn Jahren seine Abiturientenquote verdoppelte. Nachdem Ralf Dahrendorf wenig später mit „Bildung ist Bürgerrecht“ politisch-moralisch nachlegte, da die Struktur des Bildungswesens und das katholische Arbeitermädchen vom Lande negativ korrelierten, war die Bahn für eine umfassende Bildungsreform frei, die von den CDU-regierten B-Ländern der KMK eher nolens, von den A-Ländern hingegen volens betrieben wurde. Anfangs war gar von einer Ablösung des gegliederten Schulsystems durch eine gemeinsame Sekundarstufe I die Rede und die „roten“ Flagschiffe Hessen und Nordrhein-Westfalen machten auch ernst damit, indem sie zahlreiche Gesamtschulen gründeten. „Chancengleichheit durch Bildungsexpansion“ war die Parole, deren Erfolg man natürlich durch nichts einfacher nachweisen konnte als durch die statistische Vermehrung höherer formaler Abschlüsse.

Mit der Chancengleichheit tun wir uns bekanntlich immer noch schwer, die Bildungsexpansion hat aber unstrittig stattgefunden und rief bereits Ende der siebziger Jahre ihre Gegner aus der CDU und dem Arbeitgeberlager auf den Plan: Ein Qualitätsverfall des Abiturs sei die unvermeidliche Folge der Expansion und außerdem könne nicht jeder Häuptling sein, es müsse auch Indianer geben. Deswegen seien die Hauptschule und die an sie naturgemäß sich anschließende Ausbildung im dualen System zu stärken. Hinter diesen Argumenten Strukturkonservatismus zu vermuten, der die möglicherweise ins Wanken geratende Privilegientektonik der Klassengesellschaft deutscher Prägung stabilisieren wollte, war nicht völlig abwegig, es steckte aber auch eine nüchterne Systemeinsicht dahinter, denn es war absehbar, dass der künftige Arbeitsmarkt nicht in dem Maße Arbeitsplätze mit akademischer Qualifikation bereitstellen konnte, wie examinierte Absolventen auf ihn drängten — die Expansion fraß ihre Kinder und die von Nida-Rümelin zu Recht beklagte Unterfinanzierung der überlasteten Universitäten (Stichwort „Untertunnelung“) tat ein Übriges, die Misere von Pichts Hoffnungsträgern zu vergrößern.

In dieser Situation kam Bologna gerade recht, versprach die Reform doch die Schaffung des „größten wissensbasierten Wirtschaftsraums der Welt“ durch konsequente Orientierung des Studiums an „employability“ und damit die Lösung exakt der Probleme, die die im Prinzip gleiche Forderung Pichts eingebracht hatte, mit dem einzigen Unterschied, dass Picht noch keine inhaltliche Vorstellung von einem ökonomischen Zwecken dienlichen Studium hatte — brauchte er auch nicht, denn die Aura des Akademischen war seinerzeit noch groß genug, um ihr fraglos auch die Lösung ökonomischer Probleme zututrauen. Zu Unrecht, wie man heute zu wissen meint, denn wenn Humboldts von „Einsamkeit und Freiheit“ gekennzeichneter wissenschaftlicher Bildungsprozess immer mehr einsame freiberufliche Taxifahrer hervorzubringen schien, so war dies eine volkswirtschaftliche Fehlinvestition, die dringendes Gegensteuern in Form straff organisierter Studiengänge mit beruflicher „Zielführung“. Dies wäre dann allerdings eher als „Entakademisierungswahn“ zu bezeichnen, es sei denn, man verständigte sich darauf, den Begriff „akademisch“ frei von traditionellen Assoziationen nur noch zur rein formalen Bezeichnung von Hochschulabschlüssen zu verwenden, die ja in der Tat zugenommen haben.

Auch dieses Kalkül ging jedoch ebenso fehl wie dasjenige Pichts: Die akademische Mangelmutante der „employability“ entpuppte sich auf dem Arbeitsmarkt als das Gegenteil ihres Versprechens, wovon die „Generation Praktikum“ und die Schar der arbeitslosen Akademiker in den Ländern ein Lied singen können, die zum Teil schon vor Bologna auf eine maximale Steigerung der Abiturienten- und damit Studierendenquote gebaut haben: Frankreich, Spanien, Italien, Großbritannien. Nicht nur diese Fälle, sondern auch ihr Gegenteil, die Länder mit noch relativ geringer Abiturientenquote, aber florierender Wirtschaft, wie Deutschland, Österreich und die Schweiz strafen mit irritierender Systematik die humankapitalistische Mär von der Korrelation wirtschaftlichen Erfolgs mit einem hohen formalen Bildungsniveau Lügen. Unter der Voraussetzung, dass wir „akademisch“ rein formal verstehen, ist also die Klage über den „Akademisierungswahn“ (unter der Voraussetzung eines abgespeckten Verständnisses von „akademisch“) heute ebenso berechtigt wie die Forderung nach einer bildungspolitischen Rehabilitierung des Dualen Systems, nur wird die soziale Voraussetzung dafür kaum so zu schaffen sein, wie Nida Rümelin sich das vorstellt: „Gleicher Respekt vor allen Talenten. Jede Begabung ist gleichwertig, eine Elektrotechnikerin verdient die gleiche Anerkennung wie ein Professor oder ein Manager oder eine Erzieherin.“ Die bis heute in der Bildungspolitik geläufige Formel „nicht gleichartig, aber gleichwertig“ begleitet die deutschen Schulreformen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts: Bereits der philanthropische Pädagoge Campe versuchte sein an gesellschaftlicher Nützlichkeit orientiertes Bildungskonzept mit eben diesem Argument zu rechtfertigen: „Kann nicht z. E. die Vernunft eines erfahrenen Landmanns, der sich gewöhnt hat, über die Geschäfte seines Berufs, und über die Gegenstände des gemeinen Lebens in seiner Sphäre nachzudenken, ebenso geübt und ebenso wirksam (nur unter anderen Modifikationen) als die Vernunft eines Professors seyn, der ein Compendium der Vernunftlehre geschrieben hat und täglich Vorlesungen darüber hält“. Nicht anders argumentierte auch der bildungspolitische Exponent des nach dem Wiener Kongress restaurierten Ancien Regimes Beckedorff, der Humboldts Schulplänen endgültig den Garaus machte, indem er „nach bisheriger alter Weise gute, Bauern-, Bürger- und Gelehrtenschulen“ forderte, „worin diejenigen, welche zwar verschiedenen, aber gleich ehrenwerten Ständen angehören, von Kindesbeinen an zu ihrer künftigen Bestimmung vorbereitet werden.“

Die Formel verkennt, sei es politisch beabsichtigt oder nicht, die seit der Antike bestehende soziale Aura der „höheren“, geistigen Bildung und die besonders in der deutschen Sozialgeschichte hohe Bedeutung der gymnasialen Bildung als Prestigesymbol und der Studienberechtigung als faktischem Eintrittsbillet in sozial privilegierte Positionen. Damit war stets zugleich die Geringschätzung beruflicher Bildung verbunden, die nur auf „niedere“, nicht geistig bestimmte Tätigkeiten vorbereitete. Die symbolische Bedeutung der Bildung ist somit der wesentliche Katalysator, durch den Bildungsexpansionen ihre Eigendynamik gewinnen. Gegen ihn sind verbale Bekenntnisse zur Gleichwertigkeit aller Tätigkeiten machtlos.

Links:

Artikel in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Artikel in der FAZ

Artikel im Spiegel