Veröffentlicht am 18.12.14

Denkfehler ohne Ende

Ungekürzte Fassung des Beitrags „Ganz schön vermessen“ in der ZEIT vom17.12.2014, S, 68

In der ZEIT vom 4.12.2014 (S. 77) schrieb Martin Spiewak unter dem  Titel “Studien ohne Ende“ über die Vielzahl der empirischen Studien zur Schulforschung. In kurzer Zeit habe sich die Zahl der „empirisch arbeitenden Bildungsforscher an den Universitäten vervielfacht, Fördergelder sprudeln wie nie zuvor“.  Doch selbst Befürworter solcher Studien wie der Hamburger Schulsenator Ties Rabe wüssten mittlerweile vor lauter neuen Akronymen (Fiss, Biss, Neps, Nil …) neben den schon bekannten (Pisa, Iglu, Tosca, Kess …) und den sich widersprechenden Interpretationen nicht mehr weiter:

„Was bringen die ganzen Studien eigentlich? Die einen Wissenschaftler  ziehen daraus diese Schlussfolgerungen, die anderen jene. Was soll ich denn da glauben?“ (Rabe, zit. n. Spiewak)

Rabe bringt damit dreierlei auf den Punkt. Erstens die Interpretationsbedürftigkeit jeglichen statistischen Materials. Zahlen ohne Kontext (hier: Fragestellung und Aufbau der Studien; Methode der Datenerhebung und Auswertung, Parameter und Prämissen der Interpretation) sagen exakt: Nichts. Das ist zwar bitter für Zahlengläubige, gleichwohl wissenschaftlicher Konsens. Das Bonmot „Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast“ lässt sich fortschreiben mit: „Warum Statistiken fälschen, wenn ich a) Fragestellung und Methode festlegen kann und b) die Interpretationshoheit über die erhobenen Daten habe?“

Zweitens die notwendige Kontextualisierung von Daten in den entsprechenden wissenschaftlichen Modellen und Theorien, die durch ihre Prämissen und Axiome bestimmte Interpretationen sachlogisch erwartbar folgen lassen. Das erkenntnisleitende Interesse (Habermas) bestimmt die Herangehensweise. Fragestellung und Methode präjudizieren mögliche Ergebnisse. Daher sind auch sich wechselseitig ausschließende Interpretationen von Daten im Kontext der jeweils eigenen Theorie, Fragestellung und Modelle möglich, auch wenn es Außenstehende verwirren mag. Denn wissenschaftliches Arbeiten ist nicht dualistisch (richtig/falsch), sondern pluralistisch (richtig im Kontext von …).

Drittens der Glaube, sowohl an die Wissenschaft als „neutraler“ Methode wie an die Redlichkeit der Interpreten. Schon die Behauptung der Möglichkeit von wertfreier, objektiver oder ideologiefreier Wissenschaft ist Ideologie. Zahlenfixierten Empirikern und Statistikern muss man immer wieder verdeutlichen, dass Interpretationen (d.h. Auslegung, ditto Hermeneutik!) von Zahlen ständig zu falsifizierende bzw. zu verifizierende Meinungen (doxa) sind und kein „neutrales“ Wissen. (Popper, Logik) Der Computerwissenschaftler Jospeh Weizenbaum formuliert schärfer:

„Wissenschaftliche Behauptungen können nie gewiss sein, höchstens mehr oder weniger glaubwürdig. Und Glaubwürdigkeit ist ein Begriff aus der Individualpsychologie, d.h. ein Begriff, der nur im Hinblick auf einen einzelnen Beobachter sinnvoll ist“ (Weizenbaum, 1977, S. 31).

Der aktuelle Stand der Wissenschaft, lässt sich formulieren, ist nur der derzeit gültige Irrtum. Schon das setzt wissenschaftliche Redlichkeit voraus, die in einem Wissenschaftsmarkt, der sich alogisch über Kennzahlen, Rankings und  z.B. eingeworbene Drittmittel definiert, nicht mehr uneingeschränkt erwartet werden kann. Die systematische Unterfinanzierung der (Hoch-)Schulen und das derzeit geltende Paradigma der Ökonomisierung auch der Bildungseinrichtungen und Wissenschaft zerstört die tradierte Kultur der Ehrlichkeit als Selbstverständnis. Passenderweise erschienen am 5.12.2014, einen Tag nach dem Artikels „Studien ohne Ende“,  die ersten Berichte über systematische Fälschungen bei Medikamentenstudien. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat bereits Medikamente vom Markt genommen, der Umfang der Manipulationen ist noch nicht absehbar, „Betrügereien ohne Ende“ sind ein durchaus realistisches Szenario.

Studien als Datenschrott

Vorsätzlicher Betrug wie bei Medikamentenstudien erwartet bei der empirischen Bildungsforschung derzeit niemand. Die Folgen fehlerhafter Studien, aus denen Methoden und „Rezepte“ für Unterricht abgeleitet werden (sollen), sind aber nicht weniger schädlich für die betroffenen Schülerinnen und Schüler. Es sind zwar selten gesundheitliche (und wenn meist psychische) Schäden. Es sind aber sehr wohl Eingriffe in Bildungsbiographien und damit Lebensentwürfe. Es ist erstaunlich, dass weder Eltern noch Lehrer sich dagegen verwahren, Schule zu einem ständigen Versuchslabor, Schülerinnen und Schüler ungefragt zu Versuchskaninchen der Testindustrie zu machen…

Der ganze Beitrag als PDF:Lankau_Denkfehler ohne Ende (Replik zu Spiewak: Studien ohne Ende, Dezember 2014)