Veröffentlicht am 30.10.14

Kompetenz – ein Hochwertwort als Figur im Polit-Schach

1. Kompetenzen vs. Wissen

Sobald man diesen gegenwärtig so kontrovers diskutierten Gegensatz in der schulischen Praxis unter die Lupe nimmt, löst er sich auf.

– Es gibt, zumindest aus meiner Sicht als Deutschlehrer (für einen Fahrradcoach oder einen Fußballtrainer mag das durchaus anders aussehen), keine Kompetenzen ohne Wissen. Zur Lesekompetenz eines Schülers, der etwa im ‚Faust‘ die Szene ‚Nacht‘ liest, gehört, dass er all jene Referenzen begreift, welche sie in der Zeit des Humanismus verorten – also etwa den Knittelvers, den Hinweis auf die Bereiche von Fausts Studien etc. Und selbstverständlich gehört etwa zur Schreibkompetenz das Wissen um Textsortenregeln, um die grammatische Repräsentation von indirekter Rede, um sinnvolle Aufbaumuster etwa einer Erörterung, um sprachliche Mittel der Leserführung.
– Und umgekehrt: Jedes Wissen ist durch seine Verfügbarkeit definiert: ‚Die deutschen Kasus kennen‘ lässt sich also leicht kompetenzorientiert umformulieren als ‚ich kann die vier Fälle des Deutschen aufsagen‘.

Wenn man das Problem historisch betrachtet, wird sogleich klar, dass ‚Kompetenzerwerb‘ kein neuartiges Desiderat darstellt, sondern eine alte Selbstverständlichkeit jeder Art von Schule – einzig mit unterschiedlichen Termini bezeichnet:  In den 50er-Jahren etwa hießen (überfachliche) Kompetenzen ‚Sekundärtugenden‘ (so z.B. Fleiß, Ordnung, Sauberkeit, Sorgfalt) und wurden durchaus auch benotet, also offenbar (wie auch immer) gemessen. In den 70er-Jahren hießen sie ‚Fähigkeiten‘ – und die ‚Kommunikationsfähigkeit‘ wurde oft sogar als das Hauptziel des ganzen Deutschunterrichts angesehen.  Und auch damals waren solche Kompetenzen bereits der Kritik ausgesetzt, hauptsächlich unter dem Aspekt, dass sie, wenn nicht auf spezifische Inhalte und Werte bezogen, zu beliebigen Zwecken einsetzbar seien: Methodische Sorgfalt braucht Kant in seinem Denken ebenso wie der Terrorist, der eine Bombe konstruiert. Und Teamfähigkeit ist einer Unternehmung genauso förderlich wie einer Gangstergang, die eine Bank überfällt.  Und bloße ‚Kommunikationsfähigkeit‘, ohne ethische Reflexion antrainiert, erzeugt  – in der Tat zu allem fähige – ‚Kommunikationsathleten‘ (wie es damals hiess),  die etwa ihre ‚Rhetorikkompetenz‘ sowohl für die Verteidigung liberaler wie nationalsozialistischer Politik einsetzen (also sowohl Thomas Mann wie  Joseph Goebbels spielen) und ihre ‚Rechenkompetenz‘ sowohl als Ingenieur wie als Steuerhinterziehungsberater anwenden könnten. Eine Art moderner Sophisten also – und wie diese jeweils natürlich nur sich engagierend gegen Bezahlung!

2. Der moderne Kompetenzbegriff ist nur ein Mittel zu andern Zwecken

Gerade weil niemand wirklich gegen Kompetenzen sein kann, gerade weil sie deshalb – insbesondere im Bildungsdiskurs – ein Hochwertwort darstellen, gerade weil darum jeder, der gegen sie antritt, zum vornherein als Idiot dasteht, sind sie das ideale Mäntelchen zur Kaschierung und zugleich Durchsetzung einer Agenda, welche, offen dargelegt, zu anrüchig wirken würde. Wir beobachten hier ein klassisches Beispiel für den ‚Streit um Worte‘, der in der Politik eine so grundlegende Rolle spielt: Entscheidend ist es in politischen Auseinandersetzungen, die wesentlich immer ein verkürztes Argumentieren unter Zeitmangel sein müssen (Hermann Lübbe), im Kampf um die Wähler jene Worte für sich zu besetzen, gegen die niemand etwas haben kann. (Welcher Partei gelingt es etwa, sich als die ‚freiheitliche‘ oder als die‚demokratische‘ zu apostrophieren?) Wer das Hochwertwort ‚Kompetenz‘ für sich besetzt, kann im bildungspolitischen Kampf nur gewinnen. Ebenso verhält es sich übrigens in den aktuellen Bildungsdiskussionen mit dem Wort ‚Reform‘!
Diese ‚anrüchige Agenda‘, die es durch ein solches Hochwertwort zu bemänteln gilt, ist diejenige der OECD, welche, obwohl eine ‚Organisation für ökonomische Kooperation und Entwicklung‘, die UNESCO als weltweite Schirmherrin der Bildung abgelöst hat. (Dahinter steht ein von den USA vollzogener Akt finanzieller Erpressung, aber das ist eine andere – traurige – Geschichte.) Sie lässt sich in vier Punkten skizzieren, welche die konkreten Operationalisierungen des, wie oben dargestellt, an sich unverdächtigen Kompetenzbegriffs steuern und damit erklären:

– Bildung ist aus der Sicht der OECD nichts als eine finanzielle Investition – und also muss auch hier, wie überall, rein ökonomischer Rationalität gemäss der ‚return on investment‘ berechnet werden können, also ihre Nützlichkeit – verstanden als ‚fitness for the market‘. (Kürzlich hat ein deutscher Bildungsminister das Ziel der Schule in diese Formel gefasst.)  ‚Fitness‘ als ‚Anpassung‘ im darwinistischen Sinn passt in idealer Weise zur kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft (‚survival of the fittest‘), und faktisch sind die formulierten Kompetenzen dann auch immer Anpassungskompetenzen, obwohl der Kompetenzbegriff an sich ja auch durchaus etwa eine ‚kritische Reflexionskompetenz‘ oder gar eine ‚Protestkompetenz‘ abdecken würde.

– Soll der ‚return on investment‘ präzise (und das heißt im ökonomischen Kontext: quantitativ) eingeschätzt werden können, muss er gemessen werden können. Der herrschende Kompetenzbegriff ist darum immer an Tests gebunden (was ein wunderbar sich ergänzendes Pärchen ergibt, äussern sich Kompetenzen doch immer in Handlungen – eben: ‚die vier Fälle des Deutschen aufsagen können‘ –, die einer Messbarkeit  ja unmittelbar zugänglich sind). Er gebärt so jene gänzlich unpädagogische (und der modernen Lernforschung zudem diametral entgegenlaufende) Hybris, Lernen sei vollständig kontrollierbar, sein Erfolg jederzeit objektiv messbar. – Das Zürcher Institut für die Ausbildung von Gymnasiallehrkräften hat folgerichtig kürzlich eine Arbeit einer meiner Studentinnen mit der Begründung zurückgewiesen, ihr Projekt enthalte Lernziele, die nicht messbar seien. In den Augen zumindest jedes Deutsch- (aber gewiss auch etwa jedes Musik- oder Philosophie-)lehrers eine Ungeheuerlichkeit.

– Die Unmöglichkeit, komplexe Fähigkeiten objektiv zu messen, versuchen die modernen Operationalisierungen des Kompetenzkonzepts dadurch zu umgehen, dass sie sie in Hunderte (im gegenwärtig diskutierten neuen Schweizer Lehrplan für Volksschulen in über 4500!) Kompetenzen aufteilen. Jedes Kompetenzraster, das ich kenne, ist in erster Linie eines: riesig. Bildlich gesagt: die ‚Gestalt‘ des Unterrichts und des Lernens wird atomisiert. Übrigens: Fallanalysen wie persönliche Erfahrungen am Beispiel ‚Aufsatzbenotung nach ausführlichen Kriterienrastern’ zeigen deutlich, dass dann nicht einmal die Messung dieser Staubteilchen zu mehr Objektivität (d.h. zu kleineren Notendifferenzen) führt als ganzheitliche Korrekturen, das Konzept also nicht einmal seine eigenen Ziele erreicht.

– Zum modernen Kapitalismus gehört seine Globalisierung. Er lebt von der Mobilität zumindest seiner Kader. Kompetenzen, wie sie in den neuen Lehrplänen formuliert werden, versuchen also so wenig wie möglich ortsgebunden zu sein, was jede Kompetenz  ja schon prinzipiell vom immer verorteten Wissen abhebt. So darf z.B. ein Geographieprojekt in der Volksschule nicht mehr damit beginnen, zum Schulzimmerfenster hinauszuschauen und sich zu fragen, wieso die Landschaft, die sich zeigt, so seltsame Dellen aufweist, sondern Thema (für Schüler in den ersten Schuljahren notabene!) sind universale Gesetzmäßigkeiten der Tektonik von Chile bis Sibirien. Und statt in die benachbarten Ortschaften zu gehen, sie sich anzuschauen und im Gespräch mit ihren Bewohnern kennenzulernen, wird man ja dann wohl die Internet-Handlings-Kompetenz erwerben, auf google maps die kürzeste Reisestrecke zwischen seinem Heimatort und Silicon Valley herauszutippen.

In diesen vier Punkten lässt sich meines Erachtens also die versteckte Agenda hinter dem an sich unverdächtigen Kompetenzkonzept umschreiben. Wir sollten sie enttarnen – und also den Kampf nicht auf dem falschen Feld führen. Denn als ‚ewiggestrige Gegner von Kompetenzen‘ hätten wir ihn bereits verloren.