Veröffentlicht am 09.07.13

Inklusion oder Integration und die politische Kultur

Eine kurze Denkschrift zu einem sensiblen Thema

Von Walter Korinek

Es ist bekannt, dass die inklusive Beschulung von Kindern mit „besonderem sonderpädagogischem Förderbedarf“ (so die rechtliche Formulierung in Baden-Württemberg) mit erheblichen Problemen verbunden ist:

  • Grundlage ist die UN-Konvention zur Rechte von Behinderten von 2006, in der die Pflichten der Staaten herausgestellt wird, die für Menschen mit Behinderungen bestehenden Menschenrechte zu gewährleisten. Im Artikel 24 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit  zu  verwirklichen,  gewährleisten  die  Vertragsstaaten  ein  integratives  Bildungssystem auf allen Ebenen.
  • Damit verbunden ist die Problematik der Übersetzung des englischen Begriffs „Inclusion“; dies wird ja in den zwei unterschiedlichen Übersetzungen als „Inklusion“ oder „Integration“ interpretiert. Befürworter der Inklusion betrachten Herstellung von Heterogenität in den Schulen als ‚normale‘ und gewünschte Gegebenheit; sie verstehen Schule als ein Modell, das davon ausgeht, dass alle Schüler mit ihrer ganzen Vielfalt an Kompetenzen und Niveaus aktiv am Unterricht teilnehmen. Gegner der Inklusion argumentieren, dass Inklusion keine Methode sei, sondern eine Ideologie, in dem nicht unbedingt das Glück und die Lern-Entwicklung der Schulkinder im Mittelpunkt stehe, sondern die Schule mit Aufgaben betraut, welche der gesamten Gesellschaft aufgegeben sind. Damit würde die Schule von einer Erziehungs- und Bildungsinstitution zu einem Instrument des Social Engineering. Vertreter der Inklusion befürworten eine Abschaffung der sogenannten Förderschulen. Integrative Pädagogik dagegen achtet darauf, Unterschiede und Behinderungen wahrzunehmen und pädagogisch optimal zu behandeln mit dem Ziel der Teilhabe an der Gesellschaft.
  • Nicht zu unterschätzen ist auch bei dieser Thematik der Einfluss privater Einrichtungen – vor allem der Bertelsmann-Stiftung – auf die politische Willensbildung. Kaum eine andere Stimme setzt sich so vehement und medienwirksam für das Konzept der Inklusion und gegen integrative Ansätze ein, als diese Stiftung. Inklusion wird als alternativlos dargestellt und es wird sachlich unangemessen suggeriert, dass es bei einem Entscheidungsprozess zwischen Inklusion und Integration von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe. Auch im Bereich der Integration/Inklusion behinderter Menschen zeigt sich sehr deutlich, die hocheffiziente meinungsbildende Funktion solcher Think-Tanks. Expertenwissen aus der Praxis wird immer mehr unmaßgeblich angesichts der medialen Möglichkeiten dieser Stiftungen und der mit ihnen verbundenen Protagonisten. Problematisch ist dies in besonderem Maße, weil diese Expertisen keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen sind.
  • Nun zeigen sich in der gegenwärtigen Phase der politischen bzw. verwaltungstechnischen Umsetzung durch die Landesregierung auch Probleme, die mit dem grundlegenden Rechts- bzw. Demokratieverständnis zu tun haben. Konkret stellt sich die Frage: Dürfen bestehende Regelungen (Gesetze und andere Rechtsvorschriften) durch die Verwaltung außer Kraft gesetzt werden, indem sie sich auf Absichten der Landesregierung bzw. auf Vermutungen über die Ausgestaltung zukünftig zu erwartender Rechtsänderungen bezieht?

Pädagogische, organisatorische und rechtliche Probleme

In Baden-Württemberg geht man im Moment davon aus, dass die bisher erfolgreich durchgeführte Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Gesellschaft mit Hilfe von speziellen Sonderschulen falsch ist. Richtig und gut sei dagegen die inklusive Beschulung aller Kinder in der größtmöglichen Heterogenität. In der politischen Werbung für die Gemeinschaftsschule des Kultusministeriums Baden-Württemberg versteigt man sich sogar zu der Behauptung: „Vielfalt macht schlauer“ und bezeichnet alle bisherigen bildungspolitischen Modelle kurz und knapp als „Schwarz-Weiß-Denken“. Ideal sei eine möglichst breite Mischung aller Schüler in einer Klasse. Inklusion statt Integration sei das Gebot der Stunde. Typisch für die bildungspolitische Diskussion unserer Zeit ist dabei, dass solche Aussagen nicht auf wissenschaftlich fundierte Ergebnisse zurückgreifen, sondern politisch gesetzt werden. Hilfestellung und mediale Unterstützung liefern dabei private Einrichtungen wie die einflussreiche Bertelsmann-Stiftung.

Ausgeklammert wird häufig, wie die Regelschule die differenzierte Hilfestellung leisten soll, welche Kinder mit Behinderungen oftmals bedürfen. In der Vergangenheit leistete sich das Land Baden-Württemberg ein hochdifferenziertes Sonderschulwesen, mit dessen Hilfe den Kindern mit sonderpädagogischem Bedarf effektiv geholfen werden konnte, damit sie als Ergebnis dieser Maßnahmen eine optimale Chance auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben können. Mit Außenstellen und Außenklassen an Regelschulen wurden – soweit dies möglich ist – auch für die Schüler in ganz individueller Passung partielle und temporäre inklusive Lösungen gefunden. Nun wird als politische Setzung davon ausgegangen, dass Inklusion der wichtigste Teil der Bildung und Erziehung für alle Kinder und Jugendlichen sein soll. Im schlimmsten Fall besteht dabei die Gefahr, dass sowohl die Förderung der Behinderten selbst, wie auch die Bildung und Erziehung der Nichtbehinderten gefährdet wird.

Unabhängig von diesen pädagogischen Fragestellungen zeigen sich aber auch gravierende rechtliche und organisatorische Probleme bei der Umschulungen von Kindern mit besonderem sonderpädagogischen Förderbedarf an Regelschulen. Frühere Schüler einer Sonderschule besuchen jetzt eine Regelschule ohne dass sich an der Diagnostik der festgestellten Behinderung etwas geändert hat. Ausschlaggebend für den Schulwechsel ist lediglich die Einführung inklusiver Modelle.

Ungeklärt bleiben dabei aber Fragen wie:

  1. Hat eine Umschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an eine Regelschule verbindliche Konsequenzen für die Versorgung der Schule mit Sonderpädagogen?
  2. Nach welchen rechtlichen Normen und nach welchem Bildungsplan findet die Leistungsbeurteilung der inklusiv beschulten Schüler statt?
  3. Was geschieht, wenn ein Schüler den Leistungsanforderungen der Regelschule nicht gewachsen ist?

Nach den geltenden schulrechtlichen Regelungen in Baden-Württemberg gilt:

„Das Schulwesen des Landes gliedert sich, … in verschiedene Schularten; sie sollen in allen Schulstufen jedem jungen Menschen eine seiner Begabung entsprechende Ausbildung ermöglichen.“ Zwar formuliert das Schulgesetz in §15, Abs.4 ausdrücklich „Die Förderung behinderter Kinder ist auch Aufgabe der anderen allgemeinen Schularten…“. Der gleiche Absatz schränkt jedoch ein „…wenn sie aufgrund der gegebenen Verhältnisse dem jeweiligen gemeinsamen Bildungsgang in diesen Schulen folgen können“ (ebd.). Schülerinnen und Schüler, bei denen mangelnde „Förderungsfähigkeit“ zugeschrieben wird, haben die Pflicht „zum Besuch der für sie geeigneten Sonderschule“ (SchGBW §82, Abs.1). Über die „Pflicht zum Besuch“ und die Art des Sonderschultyps „…entscheidet die Schulaufsichtsbehörde“ (SchGBW §82, Abs.2).

Die Versetzungsordnungen aller Regelschulen sehen keine zieldifferente Förderung vor; Ressourcenzuweisungen für Kinder mit besonderem Förderbedarf an die allgemeine Schule sind nicht vorgesehen; da es keine fest angestellten oder verfügbaren Sonderpädagogen an der Regelschule geben darf.

Noch unter der alten Landesregierung wurden 5 Schwerpunktregionen bestimmt, in denen das Schulgesetz außer Kraft gesetzt wurde. Diese Schwerpunktregionen sind aufgefordert, neue Schulangebote für Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zu erproben. Außerhalb von Modellregionen bewegen sich die jeweiligen Schulen und die Schulverwaltung oftmals am Rande der Legalität. Nun wird auch außerhalb dieser Modellregionen die inklusive Beschulung von der Schulverwaltung stark forciert. Wenn aber unter Bezug auf Begriffe wie „innere Differenzierung“, „zieldifferente Förderung“, „Inklusion“ ohne rechtlich-demokratische Legitimation – sprich: formale Aufhebung der rechtlichen Richtlinien etwa für einen Schulversuch gemäß § 22 Schulgesetz  durch das Parlament bzw. die entsprechenden demokratisch kontrollierten Gremien – auch im Bereich der sonderpädagogischen Förderungen ein Modell der Maximal-Heterogenität eingeführt werden soll, ist dies in Bezug auf unser Demokratieverständnis höchst bedenklich.

Rationalität statt Ideologie

Es ist klar, dass alles, was mit dem hochemotional besetzten Begriff der Inklusion verbunden ist, ein äußerst komplexer Bereich ist und von vielen Vorstellungen geprägt ist. Umso wichtiger ist es, dass auch solche hochkomplexen Gebiete mit Rationalität und rechtsstaatlichen Prinzipien durchdrungen werden. Sicher hat nahezu niemand in unserem Land irgendwelche Einwände gegen die Teilhabe behinderter Menschen an allen Lebensbereichen und die Schule ist sicher nicht einer der Unwichtigsten davon. Aber gerade deshalb dürfen nicht unter dem Vorwand von Humanität schulpolitische Ideen des angeblichen Vorzugs maximaler Heterogenität in der Bildung ohne demokratische und rechtliche Legitimation durchgesetzt werden.

Von pädagogischer Seite muss aber auch immer wieder die Frage gestellt werden, mit welchem System man den Kindern und Jugendlichen – und damit sind alle Menschen mit und ohne Behinderungen gemeint – am besten eine ihnen gemäße Bildung und Erziehung gewährleisten kann. Dabei hilft es wenig, ideologische Thesen schlagwortartig auszubreiten und so rasch wie möglich vollendete Tatsachen zu schaffen. Den „vollen und gleichberechtigten Genuss aller
Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden
Würde zu fördern … [und] die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ sicher zu stellen – so die UN-Konvention – ist ein unstrittiges Ziel. Offen bleibt die Frage, wie dies erreicht werden kann. Integrative Förderung setzte sich diese Formulierungen schon immer zum Ziel. Sie war sich aber bewusst, dass dies durch Förderung und Hilfe unter genauer Wahrnehmung der  langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen Defizite oder Sinnesbeeinträchtigungen geschehen muss, welche Behinderte in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Integration wird immer als ein Prozess gesehen. Inklusive Systeme dagegen setzen den Schwerpunkt auf die sofortige Durchsetzung der Teilhabe schon im Schulalter.

Es kann nicht oft genug betont werden, dass sich das Bildungssystem nicht dazu eignet, gesellschaftliche und politische Streitigkeiten auszutragen. Bevor man in diesem Feld Neues einführt, muss sehr sorgfältig geprüft werden, ob dieses tatsächlich und beweisbar zu einer besseren Bildung und Erziehung beiträgt.