Veröffentlicht am 13.05.16

Das Märchen von der voruniversitären Mathematik

PROFIL-Beitrag von Wolfgang Kühnel

Der Begriff der ‘voruniversitären Mathematik’, der heute in der empirischen Bildungsforschung herumgeistert, wird – nicht ohne ein Quentchen Satire – einer kritischen Prüfung unterzogen.

Märchen Teil I:

Es war einmal ein großer König, der wollte erfahren, wie gut seine Untertanen Mathematik können, denn er hatte gehört, dass Mathematik sehr wichtig sei, obwohl er selbst immer Schwierigkeiten damit hatte. Ein König muss eben an das ganze Land denken. So rief er seine Experten herbei, darunter Mathematiklehrer, Didaktiker und einige Hohepriester der empirischen Bildungsreligion (der oberste Gott hieß ‘Mammon’), und die schlugen ihm schließlich einen Test im ganzen Reich vor, einerseits für die Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse und dann auch einen für die ganz schlauen Leute kurz vor dem Abitur. Die Experten meinten, man solle auf zwei verschiedenen Ebenen testen, nämlich die sogenannte ‘mathematische Grundbildung’ und dann zusätzlich für die Abiturienten – sozusagen als Höhepunkt – die ‘voruniversitäre Mathematik’. Das klingt gut, sagten sie dem König, schließlich haben wir ja auch Universitäten im Reich und streben mehr Absolventen in den Fächern an, die etwas mit Mathematik zu tun haben, also Naturwissenschaften und Technik. Vor kurzem hatten sich die Arbeitgeber und die Militärs schon über einen Nachwuchsmangel in diesen Fächern beschwert. Der König war begeistert und nickte, denn er wusste, dass Ingenieure wichtig für sein Reich waren. ‘Voruniversitär’ klingt wirklich gut, meinte er, denn das wirft ein positives Licht auf die Schulen im Reich.

Allerdings wussten die Experten, dass die Schulreformen der letzten Jahre wohl doch nicht so erfolgreich waren wie eigentlich angekündigt war, und dass es mit den in der Schule erworbenen ‘Kompetenzen’ bei der Mathematik nicht weit her war. Daher schwante ihnen, dass der Test nicht gut ausfallen würde, und sie hatten deswegen gewisse Sorgen um ihre Pfründe und auch ein schlechtes Gewissen. Das konnten sie dem König aber nicht sagen, denn sie fürchteten seinen Zorn. Und da beschlossen sie einfach, ein bisschen zu mogeln, und von den voruniversitären Aufgaben waren schließlich viele auf recht elementarem Niveau, so dass die Schüler der neunten und zehnten Klasse sie eigentlich auch hätten lösen sollen, und die grundlegenden Aufgaben, die waren zum Teil so einfach, das hätte fast jeder Bürger im Reich gekonnt, auch mit Volksschulbildung. Der König verstand von diesen Details nichts, denn seine eigenen Kenntnisse waren ausgesprochen mager, was er wiederum gegenüber den Experten nicht zugeben konnte und wollte. So geschah es also, und schließlich wurde der Test ausgewertet, und alle waren mit dem Ergebnis zufrieden, auch der König. Und die Hohepriester hüten weiter das Geheimnis der Aufgaben, weisen jede Kritik daran als Gotteslästerung zurück und verwenden diese ‘gemogelten’ Aufgaben immer wieder in ähnlichen Tests, bis in alle Ewigkeit. So kommt es, dass auch heute noch im ganzen Reich fast niemand von der Mogelei weiß.

Dieser König steht hier stellvertretend für die Regierenden zahlreicher Länder, besonders auch für die Regierenden in Deutschland. Zumindest in Deutschland kokettieren ja etliche Politiker (darunter sogar Kultusminister) immer noch damit, eine ‘5’ in Mathematik gehabt zu haben. Der König im Märchen zeigt da wenigstens noch eine gewisse Scham. Kein Märchen ist aber die Intention des Ganzen und auch die Tatsache, dass der wenig bekannte Begriff ‘voruniversitäre Mathematik’ seine Entstehung einem internationalen Test verdankt, und zwar TIMSS/III aus den 1990er Jahren.

 

Der vollständige PROFIL-Beitrag als PDF: Kühnel_PROFIL_04_2016_voruniversitäre_Mathematik